8 Theorien als Strukturen I - Moodle 2
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Das Labyrinth an Aussagen, das eine Wissenschaft zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt erreicht hat, hat in ganz ahnhcher Weise Eigenschaften, deren sich die<br />
Wissenschaftler selbst nicht bewusst sein mtissen. Die theoretische Struktur der<br />
modernen Physik ist so komplex, dass sie sicher nicht mit den Annahmen eines<br />
Physikers oder einer Gruppe von Physikern gleichzusetzen ist. Genauso wie viele<br />
Arbeiter ihre Anstrengungen im Errichten einer Kathedrale vereinigen, tragen<br />
viele Wissenschaftler auf ihrem je spezifischen Weg und mit ihren individuellen<br />
Fahigkeiten zur Entwicklung und Konkretisierung der Physik bei. Ebenso wie sich<br />
ein gliicklicher Turmarbeiter der Implikationen einiger ominoser Entdeckungen,<br />
die von Arbeitem am Fundament gemacht wurden, in keiner Weise bewusst sein<br />
muss, mag sich ein hochfliegender Theoretiker der Relevanz einiger experimenteller<br />
Ergebnisse flir die Theorie, an der er arbeitet, nicht bewusst sein. In beiden<br />
Fallen existieren Beziehungen zwischen Teilen einer Struktur unabhangig davon,<br />
ob sich Individuen dieser Beziehungen bewusst sind.<br />
Historische Beispiele, die geeignet sind, diesen Sachverhalt zu illustrieren,<br />
sind leicht zu fmden. Haufig werden unerwartete Konsequenzen einer Theorie,<br />
wie zum Beispiel eine experimentelle Vorhersage oder ein Widerspruch mit einer<br />
anderen Theorie im Rahmen von Folgeuntersuchungen entdeckt. So leitete<br />
Poisson aus der Wellentheorie des Lichts von Fresnel die Vorhersage ab, dass<br />
man, wenn man eine lichtundurchlassige Scheibe auf geeignete Art und Weise<br />
beleuchtet, im Zentrum der Schattenseite einen hellen Fleck beobachten kann.<br />
Fresnel dagegen war sich dieser Konsequenz seiner Theorie nicht bewusst. Auch<br />
zahlreiche Widerspriiche zwischen Fresnels Theorie und der durch sie infrage<br />
gestellten Teilchentheorie des Lichts von Newton sind entdeckt worden. Zum Beispiel<br />
sagt Fresnels Theorie voraus, dass sich Licht in der Luft schneller fortbewegt<br />
<strong>als</strong> im Wasser, wahrend Newtons Theorie genau das Gegenteil vorhersagt.<br />
Es wurde dargestellt, dass Wissen <strong>als</strong> objektiv konstruiert werden kann, indem<br />
auf objektive Eigenschaften von Aussagen, im Speziellen von Aussagen<br />
beziiglich theoretischer und beobachtbarer Aspekte, Bezug genommen wird. Doch<br />
nicht nur solche Aussagen sind objektiv. Experimentelle Versuchsanordnungen<br />
und Prozeduren, methodologische Regeln und mathematische Systeme sind ebenfalls<br />
objektiv in dem Sinn, <strong>als</strong> sie sich von den Bewusstseinsinhalten von Individuen<br />
unterscheiden. Sie konnen von Individuen kontrovers behandelt, ausgearbeitet,<br />
modifiziert und kritisiert werden. Jeder Wissenschaftler ist mit einer objektiven<br />
Situation - bestimmten <strong>Theorien</strong>, experimentellen Ergebnissen, Instrumenten<br />
und Techniken, bestimmten Arten von Argumenten usw. - konfrontiert, und er<br />
wird diese benutzen, um zu versuchen, die Situation zu verandern und zu optimieren.<br />
Der Begriff „objektiv" soil nicht bewertend verstanden werden. Inkonsistente<br />
<strong>Theorien</strong> oder solche, die nur wenig Erklamngsgehalt haben, konnen im oben<br />
beschriebenen Sinne objektiv sein. Tatsachlich haben solche <strong>Theorien</strong> objektiv die<br />
Eigenschaften, inkonsistent zu sein und wenig Erklamngsgehalt zu besitzen. Obwohl<br />
das hier beschriebene Verstandnis des Begriffs „objektiv" dem von Popper<br />
sehr ahnlich ist (siehe vor allem Popper, 1984, Kap. 3 und 4), soil die Ahnlichkeit<br />
doch nicht so weit gehen, dass auch wir uns in die verzwickte Diskussion daruber<br />
verstricken, in welchem Sinne genau diese objektiven Eigenschaften existieren.