8 Theorien als Strukturen I - Moodle 2
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9.6 Probleme mit der lakatosschen Methodologie<br />
Wie wir gesehen haben, halt es Lakatos fur angemessen, Methodologien an der<br />
Wissenschaftsgeschichte zu uberpriifen. Es ist daher nach seinen eigenen Worten<br />
legitim, die Frage aufzuwerfen, ob seine Methodologie deskriptiv angemessen ist.<br />
Es gibt Griinde, dies in Zweifel zu ziehen. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob es<br />
in der Wissenschaftsgeschichte so etwas wie „harte Kerne", die der Identifikation<br />
von Forschungsprogrammen dienen, tatsachlich gibt. Widersprtiche ergeben sich<br />
aus dem AusmaB der Bemiihungen, in dem Wissenschaftler gelegentlich versuchen,<br />
Probleme zu losen, indem sie die Gmndlagen der Theorie oder des Programms,<br />
an dem sie arbeiten, modifizieren. Kopemikus zum Beispiel riickte die<br />
Sonne ein wenig aus dem Zentrum der planetaren Umlaufbahnen heraus, lieB den<br />
Mond und nicht die Sonne die Erde umkreisen und nutzte allerlei Kunstgriffe, um<br />
die Details der Epizykelbewegungen so lange zu modifizieren, bis die Bewegungen<br />
der Planeten nicht mehr einheitlich waren. Was war <strong>als</strong>o genau der harte Kern<br />
des kopernikanischen Programms? Im 19. Jahrhundert gab es ernstzunehmende<br />
Bemtihungen, die Probleme der Periheldrehung des Merkurs dadurch aus der Welt<br />
zu schaffen, dass man das Gravitationsgesetz abzuandem versuchte. Es fmden sich<br />
<strong>als</strong>o in der Wissenschaftsgeschichte Vorgange, mit denen die Hauptbeispiele, die<br />
Lakatos beziiglich seines Konzepts vom „harten Kern" anfuhrt, erschtittert werden.<br />
Ein groBeres Problem betrifft die Realitat der methodologischen Entscheidungen,<br />
die eine solch wichtige Rolle in Lakatos' Beitrag zur Wissenschaftstheorie<br />
spielen. Zum Beispiel haben wir gesehen, dass der „harte Kern" eines Forschungsprogramms<br />
fur Lakatos (1974, S. 130) „aufgrund der methodologischen<br />
Entscheidung seiner Protagonisten" unwiderlegbar bleibt. Sind diese Entscheidungen<br />
eine historische Realitat oder ein Hirngespinst Lakatos'? Lakatos gibt keine<br />
wirklichen Belege fur die Antwort, die er benotigt, und es ist auch nicht wirklich<br />
klar, welche Art von Studie solche Belege erbringen wlirde. Das Thema ist von<br />
zentraler Bedeutung fur Lakatos, weil die methodologischen Entscheidungen den<br />
Unterschied zwischen seiner Position und der Kuhns ausmachen. Kuhn und<br />
Lakatos argumentieren, dass Wissenschaftler koordiniert innerhalb eines bestimmten<br />
Rahmens arbeiten. Fur Kuhn ist die Frage, wie und warum sie dies tun,<br />
Gegenstand soziologischer Analysen. Fiir Lakatos fuhrt dies zu einem nicht akzeptablen<br />
Relativismus. Fiir ihn ergibt sich der Zusammenhalt durch methodologische<br />
Entscheidungen, die rational sind. Lakatos gibt allerdings keine Antwort auf<br />
den Vorwurf, dass diese Entscheidungen keine historische (oder gegenwartige)<br />
Realitat haben, noch gibt er eine klare Antwort auf die Frage, in welchem Sinne<br />
sie <strong>als</strong> rational betrachtet werden sollten.<br />
Eine andere grundlegende Kritik an Lakatos ist direkt verbunden mit dem<br />
zentralen Thema dieses Buches, der Frage, was das Charakteristische wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis ist. Lakatos' Rhetorik zumindest legt nahe, dass seine<br />
Methodologie eine definitive Antwort auf diese Frage geben sollte. Er fordert,<br />
dass „das Hauptproblem der Wissenschaftstheorie ... das Problem der Aufstellung<br />
allgemeiner Bedingungen fur die Wissenschaftlichkeit einer Theorie" ist, ein<br />
Problem, welches „eng mit dem Problem der Verniinftigkeit der Wissenschaft<br />
zusammen[hangt] ...", und dessen „Losung uns einen Leitfaden daftir in die Hand