8 Theorien als Strukturen I - Moodle 2
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Aussagen haben nicht die Eigenschaften physikalischer Objekte. Die Art der Existenz<br />
solcher linguistischen Objekte zu benennen, ist eine vertrackte philosophische<br />
Aufgabe. Ahnliches gilt fur andere soziale Konstruktionen, wie methodologische<br />
Regeln und mathematische Systeme. Mir genugt es jedoch, meine Argumente<br />
durch das Heranziehen der genannten Beispiele auf einer allgemein nachvollziehbaren<br />
Ebene vorzubringen. Fiir meine Belange ist dies ausreichend.<br />
Viele von Kuhn angefuhrten Aspekte von Paradigmen liegen auf der objektiven<br />
Seite der hier vorgestellten Dichotomie, so zum Beispiel seine Ausfuhrungen<br />
zur Tradition des Ratsellosens innerhalb eines Paradigmas, zu den Anomalien, mit<br />
denen ein Paradigma konfrontiert ist und ebenso zu der Art und Weise, in der sich<br />
Paradigmen beztiglich unterschiedlicher Standards und metaphysischer Annahmen<br />
unterscheiden. Akzeptiert man diese Interpretation, ist es - in Kuhns Terminologie<br />
- sinnvoll, unsere grundlegende Frage danach zu stellen, in welchem Sinne von<br />
einem bestimmten Paradigma gesagt werden kann, dass es einen Fortschritt<br />
gegeniiber einem rivalisierenden Paradigma darstellt. Es ist die Frage nach der<br />
objektiven Beziehung zw^ischen Paradigmen.<br />
Dennoch gibt es aber auch eine eher der subjektiven Seite der Dichotomie<br />
entsprechenden Sichtweise in Kuhns Werk, zum Beispiel seine Ausfiihrungen zum<br />
„Gestaltwandel" und Ahnliches. Spricht man von Paradigmenwechseln in Begriffen<br />
eines Gestaltwandels, wie dies Kuhn tut, entsteht der Eindruck, <strong>als</strong> seien die<br />
Sichtweisen der jeweiligen Seiten eines Wechsels nicht vergleichbar. Wird dies<br />
gleichgesetzt mit einem Wechsel, der im Bewusstsein eines Wissenschaftlers stattfindet,<br />
wechselt er von der Anhangerschaft eines Paradigmas zu einer anderen.<br />
Diese Gleichsetzung fiihrt zu der Verwirrung, die der am Beginn dieses Abschnitts<br />
angefuhrte Satz hervorruft. Stehen die Natur von Wissenschaft und der Charakter<br />
wissenschaftlichen Fortschritts im Mittelpunkt der Betrachtung, wie dies bei Kuhn<br />
der Fall zu sein scheint, so sollten die Ausfiihrungen zum Gestaltwandel und zur<br />
religiosen Konversion aus Kuhns Beitrag entfemt werden, und es sollte bei einer<br />
objektiven Charakterisierung von Paradigmen und deren Beziehungen zueinander<br />
bleiben. Zumeist geht Kuhn auch genau so vor, und seine historischen Studien<br />
sind eine Fundgrube fiir wichtiges Material zur Erhellung der Natur von Wissenschaft.<br />
Inwiefern von einem historisch existierenden Paradigma gesagt werden kann,<br />
dass es besser ist <strong>als</strong> ein rivalisierendes, das es ersetzt, unterscheidet sich von der<br />
Frage nach der Art und Weise und den Grtinden, aus denen ein einzelner Wissenschaftler<br />
die Paradigmen wechselt oder sich entscheidet, innerhalb des einen oder<br />
anderen zu fi)rschen. Die Tatsache, dass Wissenschaftler im Rahmen ihrer Forschungsarbeit<br />
aus einer Vielzahl von Grtinden, oft beeinflusst durch subjektive<br />
Faktoren, Urteile fallen und Entscheidungen treffen, ist das eine. Die Beziehung<br />
zwischen unterschiedlichen Paradigmen, die oft erst im Nachhinein wahrgenommen<br />
werden, etwas anderes. Wenn identifiziert werden kann, wie Wissenschaft<br />
voranschreitet, sind es die zuletzt genannten Erwagungen, in denen eine Antwort<br />
zu fmden ist. Das sind die Griinde, weswegen mich Kuhns Versuch in seinem<br />
Text von 1977 (Kap. 13) nicht befriedigt, dem Vorwurf des Relativismus entgegenzutreten,<br />
indem er sich auf die Themen „Werteentscheidung und <strong>Theorien</strong>wahl"<br />
konzentriert.<br />
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