8 Theorien als Strukturen I - Moodle 2
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wicklung bekannt, wahrend die Kriimmung von Lichtstrahlen erst danach entdeckt<br />
wurde. Aber macht es wirklich einen Unterschied in der Beurteilung von Einsteins<br />
Theorie, wenn es umgedreht gewesen ware oder wenn beide Phanomene davor<br />
Oder danach entdeckt worden waren? Die Feinheiten einer angemessenen Antwort<br />
auf diese Uberlegungen werden immer noch diskutiert, zum Beispiel von<br />
Musgrave (1974b) und Worrall (1985, 1989a). Die Logik der obigen Beispiele<br />
liegt jedoch klar auf der Hand. Die ptolemaische Erklarung riickwarts gerichteter<br />
Bewegungen stellt keine iiberzeugende Bestatigung seines Programms dar, weil<br />
sie kiinstlich festgesetzt wurde, um die beobachtbaren Daten durch die Hinzunahme<br />
speziell zu diesem Zweck entwickelter Epizykel zu erklaren. Im Gegensatz<br />
dazu ergeben sich die beobachtbaren Phanomene ganz natiirlich aus den Grundsatzen<br />
der kopernikanischen Theorie, ohne dass diese kiinstlich angepasst werden<br />
musste. Die Vorhersagen einer Theorie oder eines Programms, die wirklich zahlen,<br />
sind eher diejenigen, die sich natiirlich ergeben, <strong>als</strong> diejenigen, die arrangiert<br />
werden. Was eventuell hinter all dem steht, ist die Idee, dass das Evidente eine<br />
Theorie dann unterstiitzt, wenn ohne die Theorie Dinge unerklart bleiben. Wie<br />
sollte es der kopernikanischen Theorie gelingen, all die beobachtbaren Merkmale<br />
von Planetenbewegungen zu erklaren, wenn sie nicht im Grunde zutreffend ist?<br />
Dasselbe Argument funktioniert bei der Erklarung derselben Phanomene durch<br />
Ptolemaus nicht. Auch wenn die Theorie Ptolemaus vollig f<strong>als</strong>ch ist, verwundert<br />
es nicht, dass sie die Phanomene erklaren kann, weil die Epizykel genau zu diesem<br />
Zweck aufgenommen wurden. Dies entspricht der Sichtweise Worralls (1985,<br />
1989a).<br />
Im Lichte der bisherigen Ausfuhrungen sollten wir Lakatos' Methodologie<br />
dahingehend reformulieren, dass ein Programm in dem Umfang progressiv ist, in<br />
dem es ihm gelingt, naturliche, im Gegensatz zu neuartigen Vorhersagen zu machen.<br />
Dabei wird „natiirlich" <strong>als</strong> Gegensatz zu „arrangiert", „kiinstlich" oder „ad<br />
hoc" verstanden. Wir werden diesen Gedanken in Kapitel 13 aus einem anderen,<br />
eventuell iiberlegenerem Blickwinkel emeut aufnehmen.<br />
9.5 Die Uberprufung einer Methodologie an der Geschichte<br />
Lakatos teilte Kuhns Vorliebe flir die Wissenschaftsgeschichte. Er hielt es flir<br />
wunschenswert, dass jede Wissenschaftstheorie in der Lage sein soUe, die Geschichte<br />
der Wissenschaft zu interpretieren. Das bedeutet, dass eine Methodologie<br />
oder Philosophic der Wissenschaft in gewissem Sinne an der Wissenschaftsgeschichte<br />
iiberpriift werden muss. Lakatos war sich allerdings bewusst, dass die<br />
genaue Art und Weise der Uberprufung prazisiert werden muss. Wird die Notwendigkeit,<br />
dass eine Wissenschaftsphilosophie zur Geschichte der Wissenschaft<br />
passen muss, undifferenziert ausgelegt, so ware eine gute Wissenschaftsphilosophie<br />
nichts anderes <strong>als</strong> eine genaue Beschreibung der Wissenschaft. Als solche<br />
ware sie nicht in der Lage, essentielle Charakteristika von Wissenschaft herauszuarbeiten<br />
oder zwischen guter und schlechter Wissenschaft zu unterscheiden.<br />
Popper und Lakatos neigen dazu, Kuhns Beitrag <strong>als</strong> in diesem Sinne „nur" deskriptiv<br />
und daher <strong>als</strong> unzulanglich zu betrachten. Popper war so misstrauisch<br />
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