8 Theorien als Strukturen I - Moodle 2
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des Vortragenden zu leugnen. Sie werden beschuldigt, das naturliche Recht des<br />
Sprechers einzuschranken. Redefreiheit kann im positiven Sinne jedoch auch <strong>als</strong><br />
eine dem Individuum zur Verfiigung stehende Ressource verstanden werden, ihre<br />
Sichtweise anderen mitzuteilen. Welchen Zugang hat zum Beispiel der Einzelne<br />
zu den Medien? Diese Sichtweise lasst unser Beispiel in einem anderen Licht erscheinen.<br />
Die Unterbrechung der Veranstaltung mag eventuell gerechtfertigt sein,<br />
weil nur der Sprecher Zugang zu einem Horsaal der Universitat, Mikrophonen,<br />
Medien usw. hat, was fur die, die andere Sichtweisen vertreten, nicht der Fall ist.<br />
David Hume, ein Philosoph des 18. Jahrhunderts, veranschaulichte diesen Punkt<br />
sehr schon, <strong>als</strong> er John Lockes Idee vom Gesellschaftsvertrag kritisierte. Locke<br />
(1913) hatte den Gesellschaftsvertrag <strong>als</strong> freie LFbereinkunft der Mitglieder einer<br />
demokratischen Gesellschaft aufgefasst und argumentiert, dass es jedem, der den<br />
Vertrag nicht anerkennen will, freigestellt ist, zu emigrieren. Hume (1976, S. 156)<br />
erwiderte:<br />
Konnen wir denn alien Emstes behaupten, dass der arme Knecht<br />
Oder Tagelohner es vermag, die freie Entscheidung zu treffen, sein<br />
Land zu verlassen, wenn er keine fremden Sprachen oder Sitten<br />
kennt, und wenn er bei dem geringen Lohn, den er erhalt, von der<br />
Hand in den Mund lebt? Das ware genauso, <strong>als</strong> wenn wir behaupten<br />
wtirden, dass sein Mann, der auf einem Schiff arbeitet, sich vollig<br />
freiwillig unter den Befehl eines Kapitans gestellt hatte, obwohl er,<br />
wahrend er schlief, an Bord geschleppt wurde, und wollte er das<br />
Schiff verlassen, nur ins offene Meer springen konnte, wobei er<br />
endlich ertrinken wtirde.<br />
Jedes Individuum wird in eine Gesellschaft hineingeboren, die bereits in dem<br />
Sinne vor ihm existiert, <strong>als</strong> sie Charakteristika besitzt, die das Individuum nicht<br />
frei wahlt. Es befmdet sich nicht in der Position dazu. Aktivitaten, die ihm offen<br />
stehen, sind determiniert durch den Zugang, den ein Individuum in der Praxis zu<br />
den Ressourcen hat, die fur bestimmte Aktivitaten notig sind. Damit ist auch seine<br />
Freiheit determiniert. Auch in der Wissenschaft wird ein Individuum, das einen<br />
Beitrag leisten mochte, mit der Situation, wie sie sich darstellt, konfrontiert sein:<br />
verschiedene <strong>Theorien</strong>, mathematische Techniken, Instrumente und experimentelle<br />
Techniken. Die Wege, die Wissenschaftlem offen stehen, sind durch diese<br />
objektive Situation eingeschrankt, wahrend der Weg eines spezifischen Wissenschaftlers<br />
determiniert ist durch den Ausschnitt an Ressourcen, zu dem er Zugang<br />
hat. Wissenschaftler sind nur insofern frei, ihren „subjektiven Bedlirfnissen" zu<br />
folgen, <strong>als</strong> sie die Freiheit haben zwischen den eingeschrankten Optionen zu<br />
wahlen, die ihnen offen stehen. Unabhangig von Veranderungen in der Wissenschaft<br />
Oder der Gesellschaft allgemein, wird ein Hauptteil theoretischer Arbeit<br />
eher darin bestehen, die Situationen zu verstehen, mit denen Individuen konfrontiert<br />
sind, <strong>als</strong> sich generell auf eine uneingeschrankte Freiheit zu berufen.<br />
Es birgt eine gewisse Ironie, dass Feyerabend, der in seiner Studie uber die<br />
Wissenschaft ausfahrlich die Existenz theorie-neutraler Tatsachen leugnet, in<br />
seiner Sozialtheorie an den weit ambitionierteren Begriff eines ideologie-neutralen