Daniela Elsner sprache aufbauen können. Dieses Phänomen trifft auf eine große Anzahl an Kindern mit Migrationskontexten im deutschen Schulsystem zu, denn nur wenige mehrsprachige Schüler_innen haben Zugang zu Büchern oder Zeitschriften in ihrer Erstsprache – entsprechend lernen sie weder zuhause noch in der Schule in ihrer Muttersprache lesen oder schreiben. 29 Abbildung 3: Ich und meine Sprachen Sprache, in: Hartmut Günther/Otto Ludwig (Hg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, 1. Halbbd., Berlin 1996, S. 587–604. 29 Riehl, Das mehrsprachige Gehirn. 108
<strong>Mehrsprachig</strong>keit und Fremdsprachenlernen Eine weitere Form mehrsprachiger Kompetenz wurde lange als Semilingualismus bezeichnet. Von <strong>die</strong>sem mittlerweile häufig kritisierten Begriff 30 wird dann gesprochen, wenn zwei- bzw. mehrsprachige Lerner über einen längeren Zeitraum hinweg und in Bezug auf das formelle, schriftsprachliche Register Defizite in all ihren Sprachen aufzeigen (vgl. Abb. 3). Es sei an <strong>die</strong>ser Stelle bemerkt, dass sich der Begriff ›defizitär‹ lediglich auf solche Sprachkompetenzen bezieht, <strong>die</strong> im schulischen/akademischen Kontext von den Lernenden erwartet werden. Wie alle Schreibanfänger kommen auch mehrsprachige Kinder mit einem singulären Wissen in <strong>die</strong> Schule, welches primär durch <strong>die</strong> alltägliche familiäre Kommunikation geprägt ist. <strong>Mehrsprachig</strong>e Kinder und Jugendliche können sich meist gut in all ihren Sprachen verständigen, im Kontext Schule sind nun aber verstärkt standardsprachliche Fähigkeiten gefordert, <strong>die</strong> von allen Kindern erst aufgebaut werden müssen. Eine solche Überführung von singulären in reguläre Wissensstrukturen 31 stellt dann eine besondere Herausforderung dar, wenn auf lexikalischer, syntaktischer und pragmatischer Ebene eine Familiensprache vorliegt, <strong>die</strong> Muster aus der Erst- und der Zweitsprache aufweist. Dass ein solches <strong>Mehrsprachig</strong>keitsprofil nun nicht unmittelbar mit Vorteilen für das weitere Fremdsprachenlernen verbunden ist, wissen wir spätestens seit Cummins 32 Interdependenz- und seiner Schwellenniveauhypothese. Diese besagen, dass Lerner zunächst über eine gewisse Kompetenz in ihren vorhandenen Sprachen verfügen müssen, um daraus überhaupt einen Nutzen für das weitere Sprachenlernen ziehen zu können, und insbesondere <strong>die</strong> Kompetenz in der Muttersprache dafür ausschlaggebend ist, wie erfolgreich man in seiner zweiten und allen weiteren Sprachen werden kann. 33 Auch wenn <strong>die</strong> hier verwendete Bilingualismus-Kategorisierung deutliche Schwächen zeigt und deshalb mittlerweile häufig abgelehnt oder erweitert wird 34 – vor allem deshalb, weil sie <strong>die</strong> Sprachkompetenz der Mehrspra- 30 Vgl. schon İnci Dirim, Var mi lan Marmelade?: türkisch-deutscher Sprachkontakt in einer Grundschulklasse, Münster 1998. 31 Claudia Osburg, Begriffliches Wissen am Schulanfang. Schulalltag konstruktivistisch analysiert, Freiburg i.Br. 2002. 32 Jim Cummins, Die Schwellenniveau- und <strong>die</strong> Interdependenz-Hypothese. Erklärungen zum Erfolg zweisprachiger Erziehung, in: James Swift, Bilinguale und multikulturelle Erziehung, Würzburg 1982, S. 34–42. 33 Lasagabaster, The Threshold Hypothesis Applied to Three Languages in Contact at School; González, Learning a L2 in a Third Language Environment. 34 Orfelia Garcia, Education, Multilingualism and Translanguaging in the 21st Century, in: Tove Skutnabb-Kangas u.a. (Hg.), Social Justice Through Multilingual Education, Bristol 2009, S. 140–158; Ingrid Gogolin/Ursula Neumann (Hg.), Streitfall Zweisprachigkeit – The Bilingualism Controversy, Wiesbaden 2009. 109