Katastrophen machen Geschichte - oapen
Katastrophen machen Geschichte - oapen
Katastrophen machen Geschichte - oapen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
108<br />
Bernd Herrmann & Jana Sprenger<br />
weis, dass er schon vor über 20 Jahren einen auf Dauer wirksamen Bekämpfungsvorschlag<br />
gemacht habe, den man seitdem nicht recht beherzigt hätte. Die Schrift<br />
hatte, vor ihrer endlichen Veröffentlichung, bereits 1750 der Königl. Akademie<br />
vorgelegen. Herr Gleditsch würde sich vermutlich wundern, dass Expertenrat bis<br />
auf den heutigen Tag nur langsam umgesetzt wird.<br />
Die Frage, um wie viel höher seinerzeit die Schäden ausgefallen wären, wenn<br />
man nicht einmal in dem tatsächlichen Umfange gehandelt hätte, erübrigt sich als<br />
kontrafaktisch. Gleichwohl wäre ihre Beantwortung die Nagelprobe.<br />
Ob dies nun insgesamt eine Fortschritts- oder Verlustgeschichte ist, entscheiden<br />
Bewertungsmaßstäbe in den jeweiligen Diskursen:<br />
Kein aufgeklärter Mitteleuropäer wird heute diese Frage in straftheologischer Hinsicht<br />
diskutieren wollen. Krünitz war aufgeklärter Autor genug, dennoch „gedenkt<br />
er des Themas auch als Christ“ und kam dabei zu der Einsicht, dass die Heuschrecken<br />
in dieser Logik durchaus eine pädagogische Mission erfüllt hätten. 66 Wer auf<br />
dieser Ebene weiterdenken möchte, landet angesichts fehlender Heuschrecken<br />
notwendig bei der Einsicht, dass es heute weniger zu Ermahnen, weniger zu Strafen<br />
gäbe. Hier lässt sich die Gewinn-Verlust-Rechnung nicht weiterführen, ohne<br />
den Raum der rational-logisch begründbaren Empirie zu verlassen (abgesehen<br />
davon, dass man eigentlich ein von Heuschrecken überquellendes Europa erwarten<br />
würde). Erreicht ist vielmehr die Ebene der Gottesbeweise, 67 die Ebene des Glaubens,<br />
nicht diejenige der Wissenschaft.<br />
Nachweise der Europäischen Wanderheuschrecke in Deutschland sind aus den<br />
letzten Jahrzehnten kaum noch bekannt, 68 wohl vor allem auch deshalb, weil ein<br />
kontinuierlicher Brutbestand letztlich auf permanenten Zuzug aus den primären<br />
Brutgebieten angewiesen wäre. Brandenburg hat Locusta migratoria in seiner Roten<br />
Liste der Heuschrecken zur Zeit nicht eingeordnet, in Berlin gilt sie als „nicht<br />
etabliert bzw. nicht im Freiland etabliert“, in Mecklenburg-Vorpommern gab es in<br />
den vergangenen Jahrzehnten nur Einzelnachweise, in Sachsen-Anhalt wurde sie<br />
in die Rote Liste nicht aufgenommen, weil sie nicht (mehr) als Brutbestand gilt,<br />
in Baden-Württemberg (ehem. sekundäres Brutgebiet) existiert keine für die Einordnung<br />
brauchbare Datenlage, Bayern führt sie als „verschollen bzw. ausgestorben“.<br />
Dieselbe Bewertung vertritt zur Zeit auch der NABU, offenbar für Gesamtdeutschland.<br />
Wer hingegen anstelle der Biodiversitätsaspekte seine Betrachtung auf die ökonomische<br />
Inwertsetzung der Natur, die Steigerung und die Sicherung der Agrarproduktion<br />
legt, wird die Wanderheuschrecke nicht vermissen: „damit hätte dann<br />
die Menschheit in harter jahrhundertelanger Arbeit einen ihrer gefährlichsten Fein-<br />
66 Krünitz, Lemma „Heuschrecke“, S. 482 ff.<br />
67 mit Blick auf den <strong>Katastrophen</strong>diskurs ergiebig ist Schmidt 1999, S. 43 ff. („Wolken krachen, Berge<br />
zittern, und die ganze Erde weint…“ Zur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen in<br />
Deutschland 1755 bis 1855, Waxmann: Münster u. a.).<br />
68 http://www.dgfo-articulata.de/de/Arten/Locusta_migratoria.php (26.5.2009)