Katastrophen machen Geschichte - oapen
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Reinhard Bodner<br />
Der Dolomitabbau wird in diesen Denkmustern teils als Symptom einer Gesamtgeschichte<br />
der ausgebeuteten Natur angesehen, die bereits mit den Fuggern begonnen<br />
habe. Noch häufiger ist aber der Versuch festzustellen, ihn von der positiv<br />
bewerteten <strong>Geschichte</strong> des Silberbergbaus abzuspalten: Während die mittelalterlichen<br />
und frühneuzeitlichen „Knappen“ mit „Ehrfurcht in den Berg hineingefahren“<br />
wären, hätten die modernen „Mineure“ ihn „mit radikalen Maßnahmen ausgebeutet“<br />
59. Die wachsende Bedeutung der Sprengtechnik im modernen Bergbau,<br />
die in Schwaz freilich über eine länger zurückreichende Tradition verfügt, wird<br />
dabei als entfremdete Beziehung von Mensch und Natur gedeutet: Die „Mineure“<br />
hätten im Berg bloß die Lunte gelegt und dadurch die „Beobachtungsgabe“ für<br />
seine Gesetzmäßigkeiten verloren. Dementsprechend scheint sich auch die raumgreifende<br />
Wirkung des Bergbaus radikal verändert zu haben: Im Unterschied zu<br />
den „harmlosen, niedrigen Stollen“ der historischen Erzlagerstätte, die nach und<br />
nach wieder zusammengeschrumpft und gleichsam natürlich verheilt seien, wird<br />
die massige Form der modernen Dolomitlagerstätte mit riesigen unterirdischen<br />
„Domen“ assoziiert, die der Tagoberfläche so nahe gekommen wären, dass von<br />
draußen bereits erste Sonnenstrahlen hereingesehen hätten. 60<br />
Expressive Vorstellungsbilder dieser Art erwiesen sich in den Interviews mit<br />
den Evakuierten als stark verbreitet. Ihre Popularität lässt darauf schließen, dass<br />
der Untertageabbau der direkten Anschauung der meisten Anrainer nicht zugänglich<br />
war; außerdem gab es kaum Kontakte zu den Bergleuten, die zum Großteil in<br />
anderen Stadtteilen oder im Umland wohnhaft waren. Im Kontext der <strong>Katastrophen</strong>wahrnehmung<br />
zog dies nicht nur ein Interesse an anschaulichen Erklärungen,<br />
sondern auch Projektionen verschiedener Art auf sich. Auffällig dabei ist das<br />
gleichzeitige Vorhandensein verschiedener Deutungsmuster. Bedenkt man, dass<br />
der Schwazer Bergbau in seiner Blütezeit eine Vorreiterrolle in technologischer<br />
und ökonomischer Hinsicht innehatte, ist es zum Beispiel nur auf den ersten Blick<br />
widersinnig, wenn andere Versuche der Abgrenzung von Erz- und Dolomitabbau<br />
in eine scheinbar gegenläufige Richtung weisen: Ersterer sei eigentlich „hochmodern“<br />
gewesen, er habe die Industrialisierung auf vielen Gebieten vorweggenommen,<br />
während es sich bei Letzterem um ein antiquiertes Überbleibsel handle, das<br />
mit dem Fortschritt nicht Schritt gehalten habe. Diese bagatellisierende Perspektive<br />
spitzt sich, ähnlich wie in der Argumentation der Bergbauanhänger, in einer Konfrontation<br />
von kleiner Ursache und großer Wirkung zu: Ein „Mickey-Mouse-<br />
Bergbau“ von verschwindender Bedeutung habe ausgereicht, um Unglück über<br />
einen ganzen Ort zu bringen. Es sei verwunderlich, dass man ihn nicht schon lange<br />
Zeit vor den Felsstürzen zugesperrt habe. 61<br />
59 IS 1 (06.09.2007), männl., Jg. 1953.<br />
60 Ebd.<br />
61 Ebd. u. IS 1 (05.09.2007), männl., keine Angaben zum Jahrgang.