Katastrophen machen Geschichte - oapen
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Christof Mauch<br />
Feuerkatastrophen, denen er und seine Zeitgenossen ausgesetzt waren, Positives<br />
abgewinnen konnte. Er ging davon aus, dass die Puritaner in Neuengland, anders<br />
als die Angehörigen von Religionsgemeinschaften in anderen Teilen der Welt,<br />
durch Naturkatastrophen nicht vernichtet, sondern gemaßregelt würden und sah<br />
darin eine „special relationship“ der Amerikaner im Verhältnis zu Gott.<br />
Ein Paradebeispiel für die optimistische Interpretation einer amerikanischen<br />
Katastrophe bot das große Feuer von Chicago, das im Jahr 1871 ausbrach und die<br />
gesamte Innenstadt zerstörte. Bei der Erinnerung an diese - neben der Johnstown<br />
Flood - fatalste Katastrophe im Amerika des 19. Jahrhunderts, spielte das Moment<br />
der Zerstörung merkwürdigerweise nur eine geringe Rolle. Zerstörung und<br />
Neuaufbau der Stadt, so schien es, fielen fast in eins; und als die<br />
Grundstückspreise ein paar Monate nach dem Feuer deutlich anstiegen, jubelte<br />
eine der Stadtzeitungen: „War dann das große Feuer nicht doch ein verkappter<br />
Segen?“ (Shuman 1871, o.P.) Potter Palmer, der das legendäre Palmer Hotel<br />
unmittelbar vor der Feuerkatastrophe eröffnet hatte, baute das völlig zerstörte<br />
Gebäude nach wenigen Wochen wieder neu und erklärte es mit Stolz und<br />
gigantischem Geschäftserfolg zum „ersten feuersicheren Hotel der Welt“.<br />
Tatsächlich trieb die Hoffnung auf einen Boom nicht nur die Grundstückspreise,<br />
sondern auch die Architektur in die Höhe. Das Feuer von Chicago, das den Bau<br />
von hölzernen Häusern riskant und obsolet erscheinen ließ, gipfelte unter anderem<br />
in der Erfindung des Wolkenkratzers. Dass Chicagos Architektur nach der großen<br />
Katastrophe und der Neugestaltung der Innenstadt Weltruhm erlangen sollte, dass<br />
Architekten wie Daniel Burnham, Dankmar Adler und Louis Sullivan zum<br />
Inbegriff einer neuen und zukunftsweisenden Art des Bauens wurden, dass neben<br />
der Innenstadt der Hochhäuser auch modellhafte Vororte mit Parks an den Ufern<br />
des Lake Michigan entstanden, gehört nicht erst zur kollektiven Erinnerung der<br />
Amerikaner, sondern bereits zum Erleben und zum Narrativ jener Zeitgenossen,<br />
die von der Katastrophe und dem phönixhaften Aufstieg Chicagos profitierten und<br />
das Desaster von Chicago zum Wunder erklärten. Im 20. Jahrhundert wurde<br />
Chicago von einer Reihe weiterer Unglücke heimgesucht, die häufig mehr<br />
Menschenleben forderten als das sogenannte „Große Feuer“. 3 Während dem<br />
Feuer von 1871 jedoch mit dem Hollywoodstreifen In Old Chicago (1938) ein<br />
melodramatisches Denkmal gesetzt wurde – mit Happy End, versteht sich – und<br />
die Kette von Dokumentationen und populärkulturellen Referenzen (einschließlich<br />
einer Simpsons-Episode) auf das Große Feuer auch um die Wende zum 21.<br />
Jahrhundert nicht abgebrochen ist, sind alle anderen Großkatastrophen fast völlig<br />
in Vergessenheit geraten. Was die Amerikaner bis heute am Feuer von 1871<br />
fasziniert, sind nicht nur die wilden Theorien zu dessen Ursprung – die<br />
Spekulationen reichen von der legendären <strong>Geschichte</strong> von O’Learys Kuh, die eine<br />
Stalllaterne umgestoßen und damit das Feuer entfacht haben soll, bis hin zum<br />
3 So forderte zum Beispiel das Iroquis Theater Fire von 1903 wenigstens zwei, wenn nicht drei Mal so<br />
viele Todesopfer wie das Feuer von 1871.