Katastrophen machen Geschichte - oapen
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Phönix und Mnemosyne<br />
Visuelle Erinnerungsstützen sind im Medienzeitalter von kaum zu überschätzender<br />
Bedeutung. Ohne die Ikonizität der Dust-Bowl-Bilder, die aus der Koppelung von<br />
Ereignis, Begriff und Bild resultiert, wäre die Reproduzierbarkeit des Ereignisses,<br />
die wiederum Erinnerung perpetuiert, überhaupt nicht möglich. Dass nicht nur<br />
Bilder, sondern auch klassische Texte als Erinnerungsstützen fungieren können,<br />
zeigt das Erdbeben von Lissabon. Die Verknüpfung des Desasters mit dem<br />
Theodizeediskurs der Aufklärung, das heißt die Koppelung des Ereignisses an die<br />
Frage nach dem Übel in der Welt, machte das Erdbeben von Lissabon zum<br />
Emblem bzw. zur Erinnerungsfigur par excellence. Die Prominenz der Chronisten<br />
– im Falle der Dust Bowl einer Dorothea Lange, eines Woody Guthrie, eines<br />
Archibald MacLeish, eines John Steinbeck und eines John Ford; im Falle des<br />
Lissabonner Erdbebens eines Voltaires, eines Heinrich von Kleist, eines Reinhold<br />
Schneider, eines Peter Solterdijk und eines Walter Benjamin – dürfte ebenfalls zur<br />
Abrufbarkeit und zur häufigen Abfrage derart emblematisierter <strong>Katastrophen</strong><br />
beigetragen haben. Wenn die Dust Bowl nicht nur für ökologische Zerstörung,<br />
sondern primär für die soziale und ökonomische Verwahrlosung in der Folge der<br />
Depression steht, das Lissabonner Erdbeben aber für die Zweifel an der Güte<br />
Gottes, dann wird deutlich, wie weit Ereignis und Erinnerungsfigur, wie weit die<br />
konkrete Katastrophe und die Vorstellung von der Katastrophe, in der – im<br />
gesellschaftlichen Diskurs erzeugten – Erinnerung auseinander liegen können.<br />
Eine Besonderheit der <strong>Katastrophen</strong>erinnerung stellt schließlich die von<br />
Hollywood inszenierte filmische Evokation von <strong>Katastrophen</strong> dar. Dass schlechte<br />
Nachrichten für die <strong>Katastrophen</strong>opfer oft genug gute Nachrichten für die<br />
Industrie bedeuteten, zeigen nicht nur der rasche und profitable Wiederaufbau von<br />
Chicago und San Francisco und die Gewinne, die private Firmen in der Folge von<br />
Hurrikan Katrina bei Aufräumarbeiten in New Orleans eingefahren haben,<br />
sondern ganz besonders die Geschäfte von Hollywood. „[B]ad news for the<br />
region is usually good news for [Hollywood]”, schrieb Mike Davis (1998), der<br />
darauf verwies, dass „the destruction of Los Angeles has been a central theme<br />
or image in at least 138 novels and films since 1909” (S. 323). Ähnlich verhält es<br />
sich mit New York. Ein Kassenschlager-Spielfilm wie The Day after Tomorrow<br />
(2004), der die Zerstörung des Big Apple infolge einer Naturkatastrophe<br />
dramatisch ins Bild setzt, hat zahllose Vorgänger. Dass New York in der<br />
Vorstellung von Autoren und auf Kinoleinwänden immer wieder zerstört wird, hat<br />
– selbst nach der realen Katastrophe vom 11. September 2001 – noch etwas<br />
Beschwichtigendes. Die anhaltende Zerstörung impliziert auch die anhaltende<br />
Wiederauferstehung. Inszenierbarkeit impliziert Beherrschbarkeit. Wiederholbarkeit<br />
suggeriert, dass Zerstörung und Wiederaufbau, Desaster und Forschritt –<br />
wie bei einer Stehauffigur - permanent aufeinander folgen. In der amerikanischen<br />
Kultur, im Film wie in der Erinnerungspolitik, gehören Mnemosyne und Phönix –<br />
Erinnerung an <strong>Katastrophen</strong> und die Überwindung der Katastrophe, Unheil und<br />
Heil, Desaster und Erlösung, <strong>Katastrophen</strong>erinnerung und <strong>Katastrophen</strong>optimismus<br />
– aufs Engste zusammen.<br />
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