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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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1 Das Gewebe <strong>literarischer</strong> Erfahrung: eine Einführung 11<br />

mindest einem Teil der Seminargruppe schließen lassen, die sich von denen von<br />

Herrn Behrend nicht grundsätzlich unterscheiden.<br />

Lässt sich, so kann im Anschluss an diese eher spekulativ formulierten Überlegungen<br />

gefragt werden, <strong>das</strong> literaturunterrichtliche Gruppengeschehen literaturdidaktisch<br />

sinnvoll in <strong>das</strong> Konzept einer identitätsorientierten literarischen Erfahrungsbildung<br />

einbringen und wie könnte <strong>das</strong> geschehen? Solche gruppenorientierten Perspektiven<br />

der bewussten und unbewussten literarischen Erfahrungsbildung müssten<br />

Unterrichtsprozesse in ihrer kulturellen Spezifizität fassen, die sich nicht als Wiederholung<br />

oder Nachholung individueller, früher kinder<strong>literarischer</strong> Erfahrungen<br />

allein fassen lässt. Das Verständnis schulischen Lesens als Lesen in einer Gruppe<br />

und als Lesen der Gruppe kann daher vom sozialisationstheoretischen und kulturkritischen<br />

Konzept des „Antagonismus zwischen Familie und Kultur“ (vgl. Erdheim<br />

1982 und 1988b) insofern profitieren, als dieses dazu beitragen kann, die literaturdidaktische<br />

Perspektive von Kompetenzgewinn und Entwicklungsförderung im Feld<br />

der literar-ästhetischen Erfahrung als individuelle Lese-Erfahrung in Gruppen und<br />

als Erfahrung lesender Gruppen zu konzipieren.<br />

Der obige Hinweis auf die Wahrnehmungskonzentration des Seminarleiters auf<br />

Herrn Behrend deutet einen letzten hier zu betrachtenden Aspekt der geschilderten<br />

Seminarszene an, den der bewussten und der unbewussten Beteiligung des Seminarleiter-Lehrers.<br />

Zu seiner Erhellung ist zunächst ein kurzer Blick auf Frau Leitner<br />

zu nehmen, die als einzige Beteiligte an der Szene neben Herrn Behrend ein erkennbares<br />

Profil gewinnt. Frau Leitner erscheint in der beschriebenen Szene als eine<br />

pragmatisch zupackende Studentin, die mit großem Eifer und unter Entlastung aller<br />

anderen Beteiligten, einschließlich des Seminarleiters, <strong>das</strong> Seminar mit dem ‚versorgt,<br />

was es braucht’: Sie kreiert die erste szenische Interpretation in Standbildern<br />

und sie übernimmt die Rolle von Herrn Behrend nach dessen Ausstieg und garantiert<br />

damit sowohl Fortlauf und Ergebnis der Seminarsitzung. Gerade die Situation des<br />

Ausstiegs von Herrn Behrend ist von Interesse, denn Frau Leitners schnelles Einspringen<br />

versetzt den Seminarleiter in eine passiv-beobachtend-konsumierende<br />

Haltung, da er nicht gefordert ist, die Situation nach Herrn Behrends Ausstieg zu organisieren.<br />

Ebenso wie beim Standbildbauen zu Beginn der Seminarsitzung war<br />

auch hier Frau Leitner bereits tätig. Der Seminarleiter nimmt dies zwar wahr, genießt<br />

die Entlastung aber eher, als <strong>das</strong>s er sich zu eigenem Handeln veranlasst sieht.<br />

Szenisch könnte sich so eine gewisse Parallele zwischen der versorgenden Funktion<br />

der Mutter in Borcherts „Küchenuhr“ und der Präsenz von Frau Leitner im Seminar<br />

konstatieren lassen, was Herrn Behrend und den Seminarleiter auf der einen Seite<br />

und Frau Leitner auf der anderen Seite in eine dem literarischen Text szenisch ähnliche<br />

Konstellation bringt. Diese Ähnlichkeit ist von präsentativer Qualität und zeigt,<br />

<strong>das</strong>s der Seminarleiter-Lehrer nicht automatisch außerhalb des literarischen Wirkungsgefüges<br />

steht, <strong>das</strong> hier vor allem für Herrn Behrend skizziert worden ist. Auch<br />

sein bewusster, aber auch sein unbewusster Umgang mit dem Text und seinem szenischen<br />

Angebot fließen in die unterrichtliche Interaktion mit ein. Die Fragestellung,<br />

die sich aus diesen Andeutungen ergibt, ist zunächst die nach den Verifikations-

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