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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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64 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />

„Danke, ich hungere gern, wenn ich dich in deinem Käfig sehe“, sagte die<br />

Wildgans und flog davon. F. N.“ (1963, 233)<br />

Diesem Produkt als Ergebnis des vierten Schritts in der Arbeit an und mit der Fabel<br />

im fünften Schuljahr ist der Ausgangspunkt und damit seine szenische Bedeutsamkeit<br />

im Interaktionsgefüge des Unterrichts nicht mehr anzusehen. Ulshöfer skizziert<br />

diesen Ausgangspunkt wie folgt.<br />

„1. Schritt. Der Lehrer erzählt eine Geschichte.<br />

Heinz<br />

Heinz ist der Liebling seiner Mutter. „Heinz, bleibe hier!“ „Heinz, was machst<br />

du?“ „Heinz, geh’ nicht auf die Straße; es regnet; du erkältest dich.“ „Heinz,<br />

es schneit; die Straßen sind glatt; bleibe hier.“ „Heinz, geh’ nicht zum<br />

Schwimmen; du kannst ertrinken.“ „Heinz, geh’ nicht zu den Pfadfindern, <strong>das</strong><br />

sind rohe Buben.“<br />

„Nein, Mutti, ich bleibe bei dir!“ „Mutti, hast du noch Kuchen?“ „Mutti, ich<br />

brate mir die Äpfel.“ „Mutti, es ist kalt, kaufe mir einen dickeren Mantel.“<br />

„Mutti, ich friere an die Ohren; kaufe mir eine Pelzmütze.“ „Mutti, die anderen<br />

Buben mag ich nicht, die sind nicht so schön angezogen wie ich. Mit ihnen<br />

spiel’ ich nicht.“<br />

So wurde Heinz fett, ungelenk, lahm und dünkelhaft.<br />

Ich überlegte, wie ich ihn kurieren könnte und nahm ihn mit zu den Pfadfindern.<br />

Sie zelteten und kochten ab. „Wer macht euch denn die Betten? Wer<br />

kocht euer Essen? Oh, ist <strong>das</strong> schmutzig bei euch! Ihr habt nicht einmal einen<br />

Spiegel und keine Federbetten? Das Wasser am Bach ist schmutzig. Hier will<br />

ich nicht bleiben. Man verroht ja bei euch.““( Ulshöfer 1963, 231f)<br />

Die Unterrichtsszene löst bei der Lektüre heftige Reaktionen bei mir aus.<br />

Mein Leseexemplar ist von intensiven Randbemerkungen gekennzeichnet, die<br />

sich alle um <strong>das</strong> Thema des männlichen Geschlechtscharakters drehen: ‚Homosexualität<br />

/ Tuntigkeit / Muttersöhnchen - der ›unmännliche‹ Mann‘ - Verweise<br />

auf szenisch parallele Stellen in der Methodik finden sich, so auf die<br />

ebenfalls paradigmatische Stelle aus dem ersten Mittelstufenband zu Wiecherts<br />

„Die Wälder rauschen“ (1952, 134-137), die in symptomatischer<br />

Weise in späteren Auflagen getilgt ist. Während ich in den ersten Lektürereaktionen<br />

nur auf die ›Unmännlichkeit‹ des Jungen achte, fällt mir beim zweiten<br />

Lesen die Mutter-Sohn-Interaktion auf. Der aggressiv-entwertende Impuls<br />

gegen den Jungen, der in der Typologisierung des zweiten Unterrichtsschritts<br />

(„Muttersöhnchen“) und der entsprechenden Kontrastfigur des „Pfadfinders“<br />

zum Ausdruck kommt, könnte letztlich der Mutter gelten, könnte auf Entwertung<br />

der Mutter zielen. 14<br />

Das Endprodukt der Fabeln, sei es nun „Wildgans und Mastgans“ oder „Stadtmaus<br />

und Feldmaus“ steht zu der Ausgangserzählung des Lehrers im Verhältnis eines ma-<br />

14 Im Unterschied zum normalen Fließtext der Arbeit und zur typografischen Gestaltung von Zitaten und<br />

Unterrichtsschilderungen werden Gegenübertragungsreaktionen in TimesNewRoman 9Pkt, kursiv,<br />

und mit einem Einzug von jeweils 0,5 cm links und rechts wiedergegeben.

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