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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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3 Literaturdidaktische Interaktionsfiguren – eine systematische Rekonstruktion 85<br />

krieg aufschreiben lassen. Systematisch geordnet nach Themen der Erinnerung,<br />

veröffentlicht er sie und wertet sie gleichermaßen als Aufforderung zur Empathie<br />

angesichts des von den Kindern erlittenen Leids, als Anstoß zur Verhinderung jedweder<br />

Wiederholung und als Ausdruck der Hoffnung, mit denen Kinder dem Leid<br />

begegnen und es überwinden. Die Empathie, die in Helmers’ Eingehen auf die Tatsache<br />

deutlich wird, <strong>das</strong>s die Schreiber zwischen 1940 und 1945 kleine und verletzliche<br />

Kinder waren (vgl. 1984, 96), kontrastiert mit der Depersonalisierung der dokumentierten<br />

Texte. Die individuellen Texte werden in ihren auktorialen Bezügen zu<br />

einzelnen Kindern nicht deutlich; sie verschmelzen vielmehr zu einem Gesamttext,<br />

dessen wesentliche Eigenschaft seine historisch-dokumentarische Qualität und nicht<br />

seine Qualität als vielfältiges biografisches Zeugnis ist. Wieder kann man <strong>das</strong> Verschwinden<br />

von etwas Signifikantem, etwas Individuellem hinter einer konstruktiven<br />

Anstrengung des Autors erkennen.<br />

Helmers stellt die Kindertexte ins Zentrum seines Aufsatzes und umklammert sie<br />

durch eigene biografische Bezüge, die eine entscheidende Ähnlichkeit zu Pielow<br />

darstellen, der ebenso wie Helmers seinen ›didaktischen Impetus‹ aus dem Krieg<br />

mitgebracht habe (vgl. 1989a). Die Vorkriegszeit taucht auch hier nicht auf. Nicht<br />

der Faschismus an sich, sondern der Militarismus, die Kriegs<strong>erfahrung</strong> sind <strong>das</strong> prägende<br />

Moment. Einzig der Hinweis auf den Beruf des Vaters stellt einen Bezug zur<br />

Vorkriegszeit dar: Pielows und Helmers’ Väter waren beide Lehrer. Die autobiografische<br />

Konstruktion der publizistischen Lebensthemen nennt den Vater daher als<br />

zweiten motivationalen Grund für <strong>das</strong> Werk:<br />

„Das war zunächst während meiner Kindheit und Jugend <strong>das</strong> tägliche Miterleben<br />

des Engagements eines hingebungsbereiten Volksbildners, wie er mir in<br />

Gestalt meines Vaters vor Augen stand.“ (Helmers 1989a, 53)<br />

Im biografisch-motivationalen Hintergrund des Werks von Hermann Helmers erscheint<br />

mit dem Vater eine patriarchale Idealgestalt, die politisch gedeutet wird<br />

(ebenda) und als politisch sublimierte Gestalt ins Werk eingeht. Die Affekte und<br />

Wünsche, die an dieser Gestalt haften, so könnte man folgern, finden so als unbewusstes<br />

Beziehungskonzept auch ihren Weg ins Werk.<br />

Die Darstellung des Vaters in den Erinnerungen an die Kindheit löst in mir<br />

als Leser ein wohliges, behütetes Gefühl von Aufgehobensein aus: Der Vater<br />

leuchtet im Dunkel der kindlichen Eindrücke (vgl. 1989b, 71). Im Kriegstagebuch<br />

fällt mir dazu eine weitere Erinnerung auf, die sich in meiner Wahrnehmung<br />

an <strong>das</strong> Vaterbild heftet: <strong>das</strong> Gefühl von Anders-Sein, von Nicht-dazu-<br />

Gehören, von Nicht-teilhaben-Dürfen, von Differenz. Helmers schildert eine<br />

kindliche Spielszene, bei der er vom „frohen Spiel“ der Kinder ausgeschlossen<br />

bleibt, und ordnet sie mit dem Wort „Allein“ als Erinnerung ein. Ihre biografische<br />

Bedeutung schreibt er dieser Szene als Anfang einer rationalen<br />

Haltung zu: „Erste Zweifel an dieser Welt nagen an meinem Herzen.“<br />

(ebenda) Die Identifikation mit dem Ideal, dem Vater und seiner Lebenshaltung,<br />

hilft über die kindlichen Leiden hinweg.

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