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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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54 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />

Leben immer gestalthaftes, in Gestaltung und Umgestaltung begriffenes Sein<br />

ist, so ist der Deutschunterricht <strong>das</strong> Kernfach der Gestalt- und der Gestaltungslehre.“<br />

(1952, VII)<br />

Diese Textpassage lässt ein zentrales Bild des Ulshöferschen Literaturunterrichts<br />

deutlich erkennen, denn er wird bestimmt durch prozesshafte Elemente einerseits<br />

und normative Elemente andererseits. Während Begriffe wie „Bildung“, „Verstehen“,<br />

„Gestalten“, „Gestaltung und Umgestaltung“ prozedurale Aspekte des Unterrichts<br />

bezeichnen, wird die normative Perspektive des Unterrichts mit Begriffen wie<br />

„Sein“ und „Gestalt“ gefasst. Der Literaturunterricht ist also ein Prozess, in dem<br />

Schüler durch Handlungen („Verstehen“ und „Gestalten“) sich auf ein normativ beschriebenes<br />

Ziel („Sein“ und „Gestalt“) zu bewegen. Ulshöfer fasst dies in dem Satz<br />

zusammen: „Der Mensch bildet sich in dem Maße, wie er etwas bildet.“ (1952, 4).<br />

Die Verknüpfung von Handlung, Prozess und Lernentwicklung wirkt auf den ersten<br />

Blick modern, erinnert an Begründungen aus handlungsorientierten didaktischen<br />

Konzeptionen. Auch Ulshöfer geht von den Schülern und ihren subjektiven und objektiven<br />

‚Bedürfnissen‘ aus. Die Frage „Was fangen Schüler mit Literatur an, wozu<br />

kann sie ihnen in ihrer Entwicklung helfen?“ bestimmt <strong>das</strong> Ulshöfersche Konzept als<br />

Ausgangsfrage. So beginnt die „Methodik“ auch mit einer Betrachtung der Schüler<br />

und ihren altersspezifischen Bedürfnissen und Problemen. Entwicklungspsychologische<br />

Verallgemeinerungen scheinen mit konkreten Unterrichts<strong>erfahrung</strong>en produktiv<br />

vermittelt. Die Schwierigkeiten und die Notwendigkeiten des Literaturunterrichts<br />

werden vor dem Hintergrund konkreter Erfahrungen mit Schülern entfaltet. So<br />

schildert Ulshöfer eine Unterrichtsszene, an der er beispielhaft Wesentliches für<br />

seine Konzeption des Literaturunterrichts zeigen will:<br />

„Ein Beispiel aus einer Stunde in einer 5. Klasse 8 : Der Lehrer liest Storms<br />

„Immensee“ vor und fragt einen Schüler, ob ihm die Erzählung gefalle; dieser<br />

antwortet: „Das ist doch alles Schwindel.“ Der Lehrer ist tief betrübt über die<br />

vermeintliche Verständnislosigkeit des Schülers, hinter der sich in Wirklichkeit<br />

eine innere Not verbirgt: der junge Mensch kommt mit sich und der Welt<br />

nicht zurecht. Der Verstand sagt ihm, daß der Dichter die Geschichte frei erfindet,<br />

aber er kann nicht erkennen, daß in dieser erfundenen Geschichte ein<br />

tiefer Wahrheitsgehalt verborgen liegt. Daß ihn die Geschichte bewegt, wagt<br />

er aus Scheu vor den Kameraden nicht zuzugestehen. Sein Verstand weist ihn<br />

auf ein dunkel gespürtes Problem hin, <strong>das</strong> Verhältnis von Wirklichkeit und<br />

Wahrheit, Dichtung und Leben, Kunst und Natur, <strong>das</strong> zu durchschauen ihm<br />

noch Lebens<strong>erfahrung</strong> und geistige Reife fehlen. Die gezeigte Gefühlskälte ist<br />

ein notwendiger Selbstschutz: halte dein Herz in der Hand, man könnte es<br />

verwunden. Die unartige Ausdrucksweise ist ein Zeichen des Unvermögens<br />

zur sprachlichen und denkerischen Bewältigung eines ernsten und von ihm<br />

richtig erspürten problemreichen Sachverhaltes. „Schwindel“, sagt der Schüler,<br />

„unwahr“ denkt er, „freierfunden“ will er berichtigt werden. Hinter der<br />

8 Dies ist die Untertertia der alten gymnasialen Zählung, also die Jahrgangsstufe 9.

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