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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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3 Literaturdidaktische Interaktionsfiguren – eine systematische Rekonstruktion 63<br />

„Wir Deutschlehrer sollten uns planmäßig im Verlebendigen von Begriffen<br />

und Situationen üben. Beispiele: Tell spricht den Monolog in der „Hohlen<br />

Gasse“. Spricht er pathetisch, überzeugt von der Richtigkeit seines Vorsatzes?<br />

Oder spricht er als ein Erschütterter aus der Angst des rechtschaffenen Menschen,<br />

der sich anschickt, ein Mörder zu werden? In welchem Fall ist Tell<br />

größer und menschlicher?“ (1952, 32)<br />

Es geht Ulshöfer also insgesamt um <strong>das</strong> Erlebbar-Machen <strong>literarischer</strong> Gestaltungen<br />

im unterrichtlichen Kontext. Dazu gehört auch der eigene gestalterische Versuch,<br />

durchgeführt jedoch immer im Bewusstsein der qualitativen Differenz zwischen<br />

Schülerversuch und künstlerisch-symbolischem „Gestaltganzen“ des literarischen<br />

Texts. Das Fabel-Kapitel des Unterstufenbandes der „Methodik“ (1963, 222-238) ist<br />

in mehrfacher Hinsicht paradigmatisch für Ulshöfers Konzeption. Auf der didaktisch-methodischen<br />

Oberfläche des Texts illustriert es den Grundsatz produktiven<br />

Textverstehens:<br />

„Der beste Weg, Fabeln zu verstehen, ist, Fabeln zu verfassen; der beste Weg,<br />

sie verstehen zu lehren, ist, zum Verfertigen anzuleiten.“ (Ulshöfer 1963, 222)<br />

Entlang der poetologischen Struktur der Fabel werden Schritte zum produktiven<br />

Verstehen der Fabel skizziert. Symptomatisch sind aber vor allem die Beispiele, an<br />

denen Ulshöfer seine Skizze entwickelt. So passt <strong>das</strong> moralische Prinzip der Fabeln<br />

überaus gut in ein unterrichtliches Konzept der Lebenshilfe und Idealbildung. Dies<br />

gilt insbesondere auch für die Differenz der Unterrichtsanregungen für Jungen und<br />

Mädchen, die ihren sichtbaren Beitrag zur sozialen Konstruktion der Geschlechter<br />

leisten. Vor allem die Formierung des männlichen Geschlechtscharakters hat es Ulshöfer<br />

angetan, denn ihm sind nicht nur wesentliche Teile des Fabelkapitels gewidmet,<br />

auch andere Unterrichtsanregungen zeigen ein entsprechendes Interesse Ulshöfers.<br />

Beispielhaft wird dabei eine weitere wichtige Figur des ulshöferschen Interaktionskonzepts<br />

deutlich, <strong>das</strong> zudem in Zusammenhang steht mit der Ambivalenz von<br />

libidinöser Nähe und aggressiv-entwertender Distanz zu den Schülern, die vor diesem<br />

Hintergrund eine Entwertung vor allem der männlichen Schüler ist.<br />

Die Unterrichtsszene (Ulshöfer 1963, 231ff) schildert weniger eine unterrichtliche<br />

Interaktion als vielmehr die literarische Bewältigung bzw. Durcharbeitung einer<br />

Entwicklungsaufgabe. Es geht um die Lösung von der Mutter und die Entwicklung<br />

eines männlichen Geschlechtscharakters. Das Endprodukt lässt diesen Zusammenhang<br />

aber kaum noch erkennen. Es lautet in der extrem verdichteten Form einer Fabel<br />

mit dem Titel „Wildgans und Mastgans“ wie folgt:<br />

„Gib mir von deinem Futter, du kannst es doch nicht alles fressen“, bat die<br />

Wildgans die Mastgans.<br />

„Dumme Gans“, entgegnete die Mastgans, „du könntest es auch haben wie<br />

ich, komm’ und bleibe hier.“

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