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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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178 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />

als verwildertes Rudel schließlich die alte Frau getötet. Die skurrile These kann<br />

durchaus als Indiz für ein Nichtbefolgen der Ästhetikkonvention im Prozess von<br />

Udos Textverstehen gewertet werden. Allerdings ist auch eine andere Deutung seines<br />

Textverstehens möglich. Trotz ihrer fiktionalen Form verweisen ästhetische<br />

Texte auf Wirklichkeit und es ist im Falle von Udos Rezeption eben auch denkbar,<br />

<strong>das</strong>s der Wirklichkeitsbezug mit dem Todesthema für Udo so bedrohlich ist, <strong>das</strong>s ein<br />

distantes Einlassen auf den Text gar nicht mehr möglich ist. Um sich des Themas<br />

und seiner affektiven Wirkung, die sich wahrscheinlich eher unbewusst als bewusst<br />

entfaltet, zu entledigen, versteigt sich Udo in einen Nebenaspekt des Texts und entwickelt<br />

aus ihm heraus eine Theorie, die es ihm erlaubt, den Text selbst gar nicht<br />

mehr wahrnehmen zu müssen. D.h. Udos Reaktion könnte auch eine textspezifische<br />

Reaktion sein, die vom Widerstand gegen den Text und den von ihm mobilisierten<br />

Affekten geprägt ist. Udo könnte durchaus in der Lage sein, andere, für ihn weniger<br />

bedrohliche Texte als ästhetische Texte, als nicht-alltagsweltliche Geschichten zu<br />

erfassen.<br />

Meine Überlegungen müssen spekulativ bleiben, weil Hurrelmanns Untersuchung<br />

keine Daten enthält, die entsprechende Verifikationen zulassen würden. Der Zweifel<br />

verweist aber auf die methodologische Notwendigkeit, Textverstehen nicht allein an<br />

Objektmerkmalen, sondern immer auch an Subjektmerkmalen und an interaktionellen<br />

Äußerungen des Textverstehens festzumachen. Hurrelmann selbst wirft die<br />

Frage auf, wie subjektorientiertes Textverstehen zu erfassen wäre, wobei sie Selbstauskunft<br />

als inadäquates Forschungsdatum m.E. zu schnell ausschließt (a.a.O.,<br />

331f). Eine überwiegende Orientierung an Objektmerkmalen enthält aber die Gefahr,<br />

<strong>das</strong>s im Literaturunterricht die Aufmerksamkeit der Lehrer zu sehr auf einer<br />

erwarteten Entsprechung der Schüleräußerung mit den Objektmerkmalen ruht, statt<br />

jener gleichschwebenden Aufmerksamkeit zu folgen, die Schüler-Bedeutungen und<br />

Text zusammen zu bringen ermöglicht, wie es Kreft als Bedingung identitätsrelevanter<br />

Lernprozesse im Literaturunterricht formuliert hat (vgl. Kreft 1977b, 148f, s.<br />

auch oben S.167f). Damit zeigt sich die Notwendigkeit, innerhalb der<br />

literaturdidaktischen Interaktionsfigur „Identifikation und Differenz“ <strong>das</strong> unterrichtliche<br />

Geschehen selbst zu einem wesentlichen Fokus zu machen.<br />

3.4.3 Neugier auf „Schüler im Literaturunterricht“<br />

Das Projekt „Bildungsprozesse im Literaturunterricht der Sekundarstufe“, <strong>das</strong> in der<br />

ersten Hälfte der siebziger Jahre von dem Literaturwissenschaftler Hartmut Eggert,<br />

dem Soziologen Hans-Christoph Berg und dem Psychologen Michael Rutschky an<br />

Berliner Gymnasien durchgeführt wurde, ist ein Meilenstein in der literaturdidaktischen<br />

Unterrichtsforschung. Dabei ist es zugleich insofern ein wichtiger Beitrag zur<br />

Formulierung der literaturdidaktischen Interaktionsfigur „Identifikation und Differenz:<br />

literarische Sozialisation“, als vor allem unterrichtsinteraktionelle Grundlagen

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