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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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56 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />

Schüler zu keiner „wahren“ Äußerung fähig. In ihm liegt etwas, <strong>das</strong> ihm „unklar“ ist<br />

und <strong>das</strong> zu seiner Bewusstwerdung den „reifen, verstehenden Lehrer als Helfer<br />

braucht“. Die Kränkung des Lehrers durch die Schülerreaktion scheint bewältigt<br />

durch die Meister-Rolle, die sich der Lehrer zuschreibt. Sie hat ihr Komplement aber<br />

in einer Depotenzierung des Schülers, der nur „unartig“ ist, „mit sich und der Welt<br />

nicht zurecht kommt“ und eben den Lehrer als Helfer braucht. 10<br />

Das Fundament des Ulshöferschen Literaturunterrichts ist einerseits ein explizites,<br />

subjektorientiertes Fragen nach dem Nutzen des Umgangs mit Literatur, <strong>das</strong> im Begriff<br />

der „Lebenshilfe“ gefasst wird und auf einer Kunstauffassung beruht, die Literatur<br />

als Quelle für identitätsrelevante Lernprozesse sieht. Andererseits ist mit diesem<br />

expliziten „Lebenshilfe“-Konzept ein implizites Gestalten der Lehrer-Schüler-<br />

Beziehung als einem Meister-Schüler-Verhältnis verbunden, <strong>das</strong> durch ein extremes<br />

Wissens- und Wertgefälle gekennzeichnet ist. Als verstehender Helfer repräsentiert<br />

der Lehrer in dieser Interaktion eine Norm, die zum einen eine Norm der Persönlichkeit<br />

darstellt und damit die bei den Schülern anzustrebende personale Identität<br />

als Anpassung an die Norm versteht. Zum anderen geht es um eine literarische<br />

Norm.<br />

In der Argumentationslinie des Beispiels ist Literatur die Antwort auf die Krisen der<br />

Adoleszenz. Bereits in seiner Zeitdiagnose aus dem ersten Heft des „Deutschunterricht“<br />

hatte Ulshöfer die mangelnde Kontemplation der Jugend beklagt. Jetzt führt er<br />

systematisch aus, worin er die Funktion der Literatur, der Kunst überhaupt, im Bildungsprozess<br />

sieht. Gerade in krisenhaften Momenten der Entwicklung entfalte sie<br />

nämlich ihre entwicklungsfördernde Qualität.<br />

„Wenn immer der Mensch unter Spannungen und Disharmonien leidet, ist er<br />

aufgeschlossen für Harmonie und Einheit. In der Dichtung findet er sie, bevor<br />

er sie in der wirklichen Welt entdeckt. Die Dichtung schenkt ihm gültige Erlebnisformen,<br />

Anschauungsformen, Denkformen zum Verstehen der Wirklichkeit.<br />

Mit Hilfe des Sprache lernt er die wirkliche Welt geistig durchdringen<br />

und seine Bestimmung als Mensch erkennen.“ (1952, 4)<br />

Die Normativität ist in ihrer andere Optionen ausgrenzenden Funktion deutlich; es<br />

geht um „gültige“ ästhetische Repräsentationen der Wirklichkeit und um eine transhistorische<br />

„Bestimmung“ des Menschen. Für den Literaturunterricht heißt dies in<br />

programmatischer Kürze:<br />

„Erziehung durch Sprache und Dichtung ist (...) nichts anderes als ein Hinführen<br />

zu einer inneren Ordnung und Seinsmitte.“ (1952, 25)<br />

10 Zur Psychodynamik der Helferthematik vgl. auch Schmidbauer 1977.

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