das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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230 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />
Die beiden Fallskizzen zeigen Prozesse im Deutsch- bzw. Literaturunterricht, in denen<br />
Schüler die Erfahrung machen können, <strong>das</strong>s es bei dem, was im Literaturunterricht<br />
von ihnen erwartet wird, vor allem um sie selbst geht und <strong>das</strong>s zwischen<br />
sprachlich-<strong>literarischer</strong> Arbeit an fremden Texten und gestalterisch-kreativem Ausdruck<br />
eine Verbindung besteht.<br />
Dies ist für alle Beteiligten nicht immer leicht, denn der Unterrichtsalltag mit seinen<br />
vielfältigen Anforderungen, Störungen und Begrenzungen zerstückelt nicht nur häufig<br />
den Unterricht selbst, sondern auch <strong>das</strong> Handeln, <strong>das</strong> Empfinden und die Wahrnehmungen<br />
der Lehrer und Schüler. Übergreifende Perspektiven des Unterrichts, die<br />
Entwicklung der literarischen Kompetenz der Schüler, geraten nicht selten aus dem<br />
Blick. Lehrplananforderungen werden dabei von Lehrern häufig als Pflicht und die<br />
als für Klassenarbeiten nicht relevanten Anteile des Unterrichts als Kür empfunden,<br />
die gerade auch angesichts einer zunehmenden zeitlichen Beschneidung des Fachs<br />
Deutsch (vgl. Müller-Michaels 2000) als erste der inneren Schere zum Opfer fällt 11 .<br />
Ich-Entwicklung und soziale Kompetenz einerseits und literarische Verstehenskompetenz<br />
andererseits sind gleichwohl aufs Engste miteinander verwoben. Dieses Verwobensein<br />
von Subjekt-Leser und Objekt-Literatur ist nicht statisch, sondern dynamisch.<br />
Die individuelle und soziale Entwicklung des Subjekts fördert die literarische<br />
Kompetenz, wie umgekehrt die literarische Kompetenz die individuelle und soziale<br />
Entwicklung beeinflusst. 12 Die Schule greift dabei auf vor- und außerschulische<br />
Prozesse zurück, ohne diese aber einfach nur fortzusetzen oder gar zu kopieren. Sie<br />
hat eher eine Perspektive der Arbeit als der Lust, der Enkulturation als der Familiarisation.<br />
Diese Pole sind nicht Gegensätze, sondern Positionen, zwischen denen der<br />
schulische Literaturunterricht oszilliert. Wichtig für eine gelingende literarische Sozialisation<br />
ist es daher, <strong>das</strong>s Schüler auch bei Arbeit, Analyse und Enkulturation die<br />
subjektiven Gratifikationen einer Beschäftigung mit Literatur erfahren können. Dies<br />
kann nicht immer gelingen, aber es muss eine wichtige Perspektive der Planung und<br />
Durchführung von Unterricht sein.<br />
Eine vielversprechende Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, besteht für Schüler<br />
darin, eigene Erfahrungen literarisch zu gestalten. Dies muss jedoch nicht immer<br />
und zwingenderweise heißen, <strong>das</strong>s dies in <strong>das</strong> Schreiben explizit autobiografischer<br />
Texte mündet. Wann immer Sprache literarisch genutzt wird, geschieht dies in einem<br />
kulturellen System, <strong>das</strong> von individuellen Erfahrungen durchzogen ist, die auch<br />
an Sprache haften. Literarische Texte von Schülern, die im weitesten Sinne Interaktions<strong>erfahrung</strong>en,<br />
Erfahrungen von Individuen mit sich und anderen Individuen in<br />
bestimmten historischen und sozialen Zusammenhängen zum Ausdruck bringen, ha-<br />
11 Diese quasi als subjektive Theorie der Deutschlehrer vom Deutschunterricht zu bezeichnende Spaltung<br />
durchzieht <strong>das</strong> Material der Interviews und Fragebögen, <strong>das</strong> die Projektgruppe Literarische Sozialisation<br />
an der Carl-von-Ossietzky-Universität gesammelt hat (vgl. Anm. 9, S. 12). Eine<br />
wissenschaftliche Validierung solcher Daten im Sinne einer lehrerseitigen „didaktischen Rekonstruktion“<br />
(Gropengießer/Kattman 1999, Gropengießer 1999) im Feld des Literaturunterrichts steht gleichwohl<br />
noch aus.<br />
12 Vergleich hierzu im Einzelnen Schön 1995a.