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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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116 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />

didaktik, so fordert Geißler, muss sich vor dem Hintergrund einer modernen Verstehenslehre<br />

als „Horizontverschmelzung“ des Textes und des Lesers verstehen (vgl.<br />

1970b 6, ausführlich in 1970a, 59-68). Geißler bestimmt eine solcherart verfahrende<br />

Literaturdidaktik als offenes Konstrukt, in dem immer wieder neu ausgelotet werden<br />

müsse, was uns Literatur noch bedeutet. Geißlers literaturdidaktisches Konzept fußt<br />

im wesentlichen auf einem Literaturbegriff, der die Funktion von Literatur gerade in<br />

der modernen Gesellschaft als einer Gesellschaft von „Entfremdung, Verdinglichung<br />

und Manipulation“ (1970b, 10) darin sieht, zur „Wirklichkeit eine Gegenwirklichkeit“<br />

herzustellen (ebenda, 11). Kunst<br />

„befreit damit den Menschen aus der Deformation seiner Entfremdung, indem<br />

sie nicht beim einzelnen Faktum stehen bleibt. Dazu gehört eine dem Kunstwerk<br />

eigene Zeitdimension. Wie wir sahen, stoppt Kunst die „reale“ Zeit des<br />

gegenwärtigen Informationsflusses, aber sie schafft diese Aufhebung, diese<br />

Pause, dadurch, daß sie dem Menschen Vergangenheit und Zukunft eröffnet,<br />

daß sie Realität als Prozeß und nicht immer nur als konditionierten Zustand<br />

begreift. In Erinnerung und Antizipation überschreitet der Mensch sich selbst,<br />

durchbricht er <strong>das</strong> Gewohnte, wird <strong>das</strong> Faktische vom Möglichen in Frage gestellt.<br />

Das heißt aber, Kunst hält dem Menschen die historische Dimension offen.<br />

Ohne sie, in purer Beschränkung auf die Gegenwart, verfiele er in eine<br />

absurde, entmenschlichte Existenz.“ (a.a.O.)<br />

Zur Begründung dieser emphatischen Funktionszuschreibung an Literatur greift<br />

Geißler auf Überlegungen der Kybernetik und der frühen systemischen Zeichentheorie<br />

zurück, die als ein konzeptioneller Ausweg aus den immer unübersichtlicher<br />

werdenden großen Systemen der modernen Kommunikationsgesellschaft verstanden<br />

wird. Literatur besitze die Fähigkeit zur Superzeichenbildung. Superzeichen ordnen<br />

die Fülle der Informationen, die uns zu überfluten droht.<br />

„Superzeichenbildung erfolgt durch Gestaltbildung und Einsicht. Das Ganze,<br />

was so eingesehen wird, ist nicht, sondern wird hergestellt.“ (12)<br />

Superzeichenbildung ist für Geißler ein ausschließlich kognitiver Prozess. Die Einsicht,<br />

die durch literarische Superzeichen entsteht, ist <strong>das</strong> Ergebnis eines Denkprozesses.<br />

„Sie (die Literatur, StK) stellt nicht Erkenntnisse dar als Illustration von<br />

Ideologien, sondern macht erkennbar. Literatur liefert keine handhabbaren<br />

Formeln, sondern Strukturen und Gestaltungen, die etwas aufdecken. Sie gibt<br />

Möglichkeiten und ermöglicht dadurch <strong>das</strong> Denken.“ (13)<br />

Die universalistische Bestimmung von Kunst und Literatur lässt <strong>das</strong> Problem der<br />

unterrichtlichen Umsetzung der ästhetischen Potentiale etwas in den Hintergrund<br />

treten, hat aber die differenten Facetten des Umgangs mit Kunst und Literatur ent-

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