das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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174 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />
druck kommenden Fähigkeiten der Schüler untersucht, sich in Bezug auf die sie umgebende<br />
Welt und andere Menschen zu positionieren. Dabei berücksichtigt Spinner<br />
neben der Ich-Entwicklung auch die Entwicklung ästhetischer Gestaltungskompetenz<br />
und formuliert einen umfassenden Erziehungsauftrag der literarisch-ästhetischen<br />
Bildung:<br />
„Die Beschäftigung mit Schülergedichten kann unseren Blick für den Weg,<br />
den Heranwachsende abschreiten müssen, schärfen. Der Erzieher (und als solcher<br />
sei der Lehrer hier bewußt angesprochen) muß dem Kind den Raum<br />
schaffen, daß es seine altersgemäßen Möglichkeiten entfalten kann. Nur so ist<br />
die Grundlage für die Weiterentwicklung gegeben: Wer sich nicht in Rollen<br />
hineingefunden hat, kann sich später nicht in Abgrenzung zu ihnen definieren.<br />
Wer sich nie märchenhafte Traumwelten ausgedacht hat, hat später nicht die<br />
Kraft, sich einer unerfreulichen Realität entgegenzustellen. Wer sich nicht<br />
intensiv auf die Wahrnehmung der alltäglichen Umwelt eingelassen hat, wird<br />
später gegenüber beglückenden und verletzenden Eindrücken unsensibel bleiben.<br />
Deshalb sind sowohl die altersspezifischen Möglichkeiten zu stützen als<br />
auch die Wege für die Weiterentwicklung anzubahnen. Es ist sinnvoll, Schüler<br />
zu Texten zu ermuntern, wie sie ein Erwachsener nicht mehr schreiben würde,<br />
zugleich wird man <strong>das</strong> Augenmerk darauf richten, wo neue Entwicklungsdimensionen<br />
bei den Heranwachsenden aufbrechen.“ (Spinner 1982, 19)<br />
Diese Textpassage löst ein wohliges Gefühl in mir aus; die Empathie für <strong>das</strong><br />
Kind und seine Bedürfnisse lässt eine Nähe der konzipierten Lehrer-Schüler-<br />
Interaktion erahnen, die mir als ein ganz besonderer Raum erscheint. Von<br />
ihm geht ein Sog aus, der mich anzieht. Bilder des kindlichen Seins im Hier<br />
und Jetzt bestimmen mein Erleben des Texts. Das Wort von den „märchenhaften<br />
Traumwelten“ eröffnet auch Blicke in einen Raum früher kindlicher<br />
Erfahrungen, einen Raum des frühen kindlichen Erlebens. Ein Gefühl von:<br />
Hier würde ich bleiben wollen! macht sich in mir breit!<br />
„Was wäre aus Kaspar H. Spinners (...) Aufsatz geworden, wenn er (1. ...., 2.<br />
....., 3. .... und 4. ..... beachtet und gelesen hätte - meine Paraphrasierung des<br />
Zitats, StK). Vielleicht eine gründliche, wissenschaftlich ernstzunehmende<br />
und weiterführende, für die Praxis wie für die Theorie gewichtige Arbeit.“<br />
(Ulshöfer 1983)<br />
Der Einwand Ulshöfers macht mich wütend, er ärgert mich. Ich werte ihn als<br />
besserwisserische Retourkutsche ab, hatte doch Spinner seine Überlegungen<br />
explizit von den eher handwerklichen Konzeptionen Ulshöfers abgegrenzt<br />
(Spinner 1982, 6f). In einer identifikatorischen Bewegung mit Spinner notiere<br />
ich als Abwehr und Abwertung: Ulshöfer ist eben ‚out’, er versteht nicht<br />
mehr, worum es eigentlich geht!<br />
Das geschilderte Textgeschehen lässt eine weitere Facette der literaturdidaktischen<br />
Interaktionsfigur „Identifikation und Differenz: literarische Sozialisation“ erkennen.<br />
Ulshöfers kritische Replik auf Spinners Darstellung mag wohl überwiegend die gekränkte<br />
Reaktion eines Denkmals sein, denn sein Rat ist letztlich: ‚Lest alle meine