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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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1 Das Gewebe <strong>literarischer</strong> Erfahrung: eine Einführung 9<br />

schen Interpretation durch Herrn Behrend. Aber es ist keine Aufgabe des Widerstands<br />

gegen die Einsicht in die Überdeterminiertheit des Lesens, vor allem in seine<br />

regressiven Anteile, die eine Voraussetzung für eine produktive Annäherung an eine<br />

andere als symbiotisch-identifikatorische Leseweise wäre.<br />

Sicher ist mit diesen Überlegungen eine Erfahrungstiefe angerissen, die im schulischen<br />

Literaturunterricht auf der Bewusstseinsebene der Beteiligten in der Regel<br />

nicht erreicht wird, weil die Grenzen zwischen den manifesten und den latenten Bedeutungen<br />

des Unterrichtsgeschehens eingehalten werden, die in der geschilderten<br />

Seminarsitzung aus Gründen der Ausbildung und des methodologischen Kenntniserwerbs<br />

überschritten wurden. Das Material der Seminarsitzung zeigt aber, welche<br />

Ebenen angesprochen werden, wenn, wie hier mittels der szenischen Interpretation,<br />

<strong>erfahrung</strong>sorientierte Methoden im Literaturunterricht zum Einsatz kommen. Dabei<br />

wird deutlich, wie die Methode vorbestimmt, was Gegenstand des unterrichtlichen<br />

Geschehens wird; sie bringt erst hervor, was in der Seminarszene zu beobachten ist.<br />

Doch hält die angewandte Methode nur die Symbolisierungsform bereit, die bestimmte<br />

Aspekte der Text-Leser-Interaktion zum Ausdruck bringt. Sie erzeugt diese<br />

Interaktion nicht selbst, sie bietet ihr lediglich eine Form. In diesem Sinne wirft die<br />

geschilderte Seminarsitzung Fragen auf nach der Reichweite, der Genese sowie der<br />

Veränderbarkeit <strong>literarischer</strong> Erfahrungen, nach den Symbolisierungsformen dieser<br />

Erfahrungen und nicht zuletzt nach dem Zusammenhang von didaktisch begründeten<br />

Methoden der Rezeptionssteuerung und <strong>literarischer</strong> Erfahrung.<br />

Die dargestellte Szene sowie die bisherige Betrachtung zu ihr hat hinsichtlich der<br />

Leser-Text-Interaktion die Leser-Seite insofern in den Vordergrund gestellt, als sowohl<br />

die subjektiven Bedingungen der Rezeption als auch deren Rückwirkung auf<br />

<strong>das</strong> Subjekt fokussiert wurden. Der Text als selbstreferentielles ästhetisches Produkt<br />

aus einer bestimmten Zeit trat dabei zunächst in den Hintergrund. So etwa<br />

löste die Betrachtung zur szenischen Wirkung und zur unbewussten Kommunikation<br />

zwischen Leser und Text letzteren anscheinend sowohl aus seiner historischen Spezifizität<br />

im Zusammenhang der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs als auch aus<br />

seiner Existenz als singuläres künstlerisches Produkt des Dichters Wolfgang Borchert.<br />

Im Bewusstsein der Gefahr der Übergeneralisierung kann die geschilderte<br />

Seminarsequenz daher als ein Paradebeispiel für jene literaturdidaktische Tendenz<br />

der letzten 20 Jahre gelten, deren literaturdidaktische Dignität Hans Kügler 1982<br />

erstmals hinterfragt hat und mit der Klage über die „bevormundete Literatur“<br />

(Kügler 1996) nicht aufgehört hat zu geißeln. Gerade der Begriff „Auslösereiz“<br />

impliziert eine etwas mechanische Vorstellung vom literarischen Text, der auf seine<br />

Funktion für <strong>das</strong> lesende Subjekt reduziert erscheint. Spätestens seit der sog. „rezeptionsästhetischen<br />

Wende in der Literaturwissenschaft“ (vgl. Reese 1980, 27ff) wird<br />

auch die Literaturdidaktik von den Polen „lesendes Subjekt“ und „rezipierter Text“<br />

bestimmt. Die literaturdidaktische Konzeptionsbildung der vergangenen zwei bis<br />

drei Jahrzehnte, die zu Recht von jener „rezeptionsästhetischen Wende“ nicht unberührt<br />

geblieben ist, blieb trotz aller Beteuerungen des notwendigen „Und“ weitgehend<br />

in der Opposition eines „Oder“ befangen (vgl. Belgrad 1996a). Die Frage, die

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