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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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140 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />

Rutschkys Einschätzung lässt erkennen, wie sehr <strong>das</strong> wissenschaftliche Projekt einer<br />

Orientierung an realen Lesern mit anti-institutionellen Fantasien verknüpft ist. Die<br />

solche Fantasien möglicherweise anregende Sprengkraft des rezeptionsästhetischen<br />

Ansatzes zeigt sich in gewisser Weise bereits in den Texten von Jauß und Iser, den<br />

beiden Hauptvertretern der die Rezeptionsästhetik prägenden ‚Konstanzer Schule’.<br />

Vor allem drei ihrer Texte haben die rezeptionsästhetisch orientierte Literaturdidaktik<br />

nachhaltig beeinflusst: Jauß Konstanzer Antrittsvorlesung „Literaturgeschichte<br />

als Provokation der Literaturwissenschaft“ (1967/70) und vor allem Isers „Die Appelstruktur<br />

der Texte“ (1970) und „Der Lesevorgang“ (1972b).<br />

Bei Jauß spielt der individuelle Leser allerdings nicht die systemsprengende Rolle,<br />

wie er sie als Möglichkeit bei Iser und dann vor allem aber in der Iser-Rezeption<br />

spielt. Jauß’ thesenartig abgefasste Darstellung skizziert zunächst in den Thesen 1<br />

bis 5 (Jauß 1967/70, 144 - 171) vorgängige literaturgeschichtliche Konzeptionen und<br />

setzt sich dabei vor allem mit Konzepten im Umfeld des historischen Materialismus<br />

auseinander. Die vorherrschenden produktions- und darstellungsästhetisch fundierten<br />

Konzeptionen müssten, so Jauß’ Ansatz, zum Zwecke der „Erneuerung der Literaturgeschichte“<br />

rezeptions- und wirkungsästhetisch überwunden und fundiert werden:<br />

„Die Geschichtlichkeit der Literatur beruht nicht auf einem post festum erstellten<br />

Zusammenhang ›<strong>literarischer</strong> Fakten‹, sondern auf der vorgängigen<br />

Erfahrung des literarischen Werkes durch seine Leser. Dieses dialogische<br />

Verhältnis ist auch die primäre Gegebenheit für die Literaturgeschichte. Denn<br />

der Literarhistoriker muß selbst immer erst wieder zum Leser werden, bevor<br />

er ein Werk verstehen und einordnen, anders gesagt: sein eigenes Urteil im<br />

Bewußtsein seines gegenwärtigen Standorts in der historischen Reihe der Leser<br />

begründen kann.“ (171)<br />

Jauß verwahrt sich jedoch sofort gegen <strong>das</strong> mögliche Missverständnis, <strong>das</strong>s diese<br />

Erneuerung der Literaturgeschichte auf bloßem Subjektivismus und einer Psychologie<br />

des Lesers basiere.<br />

„Die Analyse der literarischen Erfahrung des Lesers entgeht dann dem drohenden<br />

Psychologismus, wenn sie Aufnahme und Wirkung eines Werks in<br />

dem objektivierbaren Bezugssystem der Erwartungen beschreibt, <strong>das</strong> sich für<br />

jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis<br />

der Gattung aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und<br />

aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt.“ (173f)<br />

Jauß skizziert somit die rezeptionsästhetisch begründete Literaturgeschichte als Projekt<br />

der historischen Rekonstruktion des Diskurses, in dem Werke sich entfalten. Es<br />

ist dies ein Projekt der kulturellen Semiose, <strong>das</strong> im Sinne Foucaults in einer Ar-

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