das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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246 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />
Texten der literarischen Moderne kann es nötig machen, der interaktionellen Repräsentanz<br />
der Irritation Aufmerksamkeit zu widmen, ihr Ausdrucksmöglichkeiten zu<br />
bieten und sie didaktisch zu würdigen. Entsprechende Überlegungen sollen im Folgenden<br />
an einem weiteren Unterrichtsbeispiel vertieft werden. Dabei geht es um die<br />
Behandlung von Christa Wolfs Roman „Nachdenken über Christa T.“ (Wolf 1968).<br />
Schüler tun sich mit Christa Wolfs Texten nicht leicht, gerade dann, wenn man diese<br />
nicht auf ihre Repräsentanz einer bestimmten Richtung der Literatur der DDR reduziert<br />
und damit einen überwiegend literarhistorischen Verstehensansatz wählt, sondern<br />
ihr ästhetisches Anliegen – <strong>das</strong> Problem der Erfahrbarkeit und der Selbstvergewisserung<br />
des Individuums im Prozess des Schreibens – in den Vordergrund<br />
rückt 22 . Die Schwierigkeit von Texten wie „Kindheitsmuster“, „Kassandra“ und<br />
„Nachdenken über Christa T.“ besteht wohl in der Modernität, mit der <strong>das</strong> erzählende<br />
Subjekt sich in ihren/seinen privaten und gesellschaftlichen Bezügen befragt,<br />
hinterfragt und dabei letztlich setzt und sich ihrer/seiner selbst vergewissert. Besonders<br />
herausfordernd ist dabei, <strong>das</strong>s der Prozess dieser Vergewisserung selbst Gegenstand<br />
des Erzählens ist. Im Zentrum der meisten von Christa Wolfs Romanen<br />
und Erzählungen steht somit die Frage nach der menschlichen Identität und ihren<br />
gesellschaftlichen, historischen, individuellen und sprachlichen Bedingungen. 23<br />
Diese Sicht auf Christa Wolfs Werk ist eine wesentliche Begründung, es Schülern<br />
bekannt zu machen, wobei <strong>das</strong> Einlassen auf die Lektüre von Chr. Wolfs Texten bedeutet,<br />
ein persönliches Wagnis einzugehen, <strong>das</strong> zwar (Identitäts-) Gewinn verspricht,<br />
aber eben doch ein Wagnis mit all seinen Verunsicherungen darstellt. Ein<br />
solcher Lektüre- und Auseinandersetzungsprozess soll hier in einer weiteren Fallvignette<br />
betrachtet werden. Es handelt sich um den literarischen Arbeits- und Gruppenprozess<br />
einer Gruppe von Schülern mit ihrem Lehrer, einem Leistungskurs<br />
Deutsch im 13. Jahrgang, in dessen Zentrum Christa Wolfs Roman „Nachdenken<br />
über Christa T.“ steht. Die Fragestellung, die an <strong>das</strong> Fallmaterial herangetragen werden<br />
soll, lautet: Wie geht diese Lerngruppe mit „Nachdenken über Christa T.“ um?<br />
Wie sind die Phänomene der Gruppenkultur der Lerngruppe und der szenische Gehalt<br />
der Erzählung aufeinander bezogen? Wie hängen identitätsrelevante mit gegenstandsorientierten<br />
Lernprozessen zusammen und wie lässt sich dieser Zusammenhang<br />
verstehen und gegebenenfalls didaktisch nutzen?<br />
Nachdenken über Christa T. war der erste literarische Text, der in diesem dritten<br />
Semester des Leistungskurses auf dem Programm stand. Er war vom Lehrer<br />
ausgewählt, die Auswahl den Schülern begründet worden. Übergeordnetes<br />
Thema des Semesters war Die geheimnisvolle Welt der Zeichen, also der Zusammenhang<br />
von Sprache, Sinn, Wirklichkeit und Identität. Während die Schüler <strong>das</strong><br />
22 Grundlegende didaktische Überlegungen zum Werk Christa Wolfs finden sich in Karin Richters<br />
(1995) Basisartikel zum Themenheft „Christa Wolf“ von PRAXIS DEUTSCH [Richter (Hrsg.)<br />
(1995)]. Ähnliche Überlegungen, wie die von mir im Folgenden entfalteten, finden sich auch in den<br />
Artikeln von Angelika Böcker (1995), Ursula Kliewer (1995) und Christiana Scharfenberg (1995).<br />
23 Vergleiche <strong>Dr</strong>escher (Hrsg.) (1989), Hilzinger (1986), Mauser (1987) und Stephan (1976).