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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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3 Literaturdidaktische Interaktionsfiguren – eine systematische Rekonstruktion 137<br />

Die Tatsache, <strong>das</strong>s sich im Roman aber zunächst eine in jeder Hinsicht gegenseitige<br />

und keineswegs gewaltförmige Liebesbeziehung entwickelt, bleibt unberücksichtigt.<br />

Selbst wenn man kritisch konzediert, <strong>das</strong>s Sabeths lustvolle Beteiligung am nicht,<br />

noch nicht oder nur unbewusst wahrgenommenen Inzest der Fantasie eines männlichen<br />

Autors entspringt, der in dieser Fantasie möglicherweise die unbewusste Gewaltförmigkeit<br />

solcher Beziehungen verdrängt, bleibt auch auf der Textebene eine<br />

Ambivalenz des Geschehens erhalten, die sich durch eine moralische „Bewertung<br />

der Inzesthandlung nach Richtig-falsch-Kriterien“ (a.a.O., 238) nicht auflösen lässt.<br />

Diese Ambivalenz erscheint auch in den Aussagen der Schüler, sie wird vom Lehrer<br />

gleichwohl als Abwehr gedeutet und als Begründung dafür benutzt, seine Deutungsperspektive<br />

weiterzuverfolgen bzw. durchzusetzen. Von den Beteiligten offensichtlich<br />

unbemerkt, rekonstelliert sich <strong>das</strong> Unterrichtsgeschehen in Analogie zum Beziehungsgeschehen<br />

zwischen Walter Faber und Sabeth. Während der Lehrer die<br />

Schüler zur Einsicht in die moralische Verwerflichkeit der Beziehung (ver-)führen<br />

will, möchten diese ein naives Erleben der Erotik inzestuöser Fantasien aufrechterhalten,<br />

indem sie <strong>das</strong> Geschehen bagatellisieren. Das Spiel um die Deutung gestaltet<br />

sich insofern als erotisches Geschehen, weil es seine Dynamik aus der Spannung<br />

von Hingabe und Widerstand bezieht, eine Spannung, die beide Seiten mit Lust aufrechterhalten.<br />

Dass die diskurstheoretische Perspektive geradezu als Behinderung der Erkenntnis<br />

der Beziehungsdynamik der Unterrichtsszene, also als Gegenübertragungswiderstand<br />

fungiert, macht die Auswertung der Sequenz deutlich, die gerade <strong>das</strong> Moment<br />

der psychoanalytischen Deutung fokussiert. So heißt es, die Auswertung der Szene<br />

einleitend:<br />

„Der weitere Diskursverlauf zeigt, daß ein noch intensiveres Verständnis der<br />

Situation kaum möglich ist. Und <strong>das</strong>, obwohl (Hervorhebung von mir, StK)<br />

der Lehrer (20-28), den Diskursverlauf zunehmend bestimmend, auf eine<br />

Vertiefung der psychologischen Deutung hinarbeitet.“ (Werner 1996, 247)<br />

Vor dem Hintergrund der Überlegungen zu szenischen Analogien von Unterrichts-<br />

und Textszene könnte man vermuten, <strong>das</strong>s ein „intensiveres Verständnis der Situation“<br />

nicht möglich ist, obwohl, sondern weil der Lehrer zunehmend intrusiv eine<br />

bestimmte Deutungsperspektive durchzusetzen versucht, die im Kern <strong>das</strong> szenische<br />

Gefüge auch des Unterrichts betrifft.<br />

In der kritischen Reflexion der Lehrerrolle hebt Werner allerdings durchaus hervor,<br />

<strong>das</strong>s eine wachsende Dominanz des Lehrers festzustellen ist, die den Gesprächsregeln<br />

zunehmend widerspricht, <strong>das</strong>s dennoch aber die Schüler ihre Möglichkeiten zur<br />

Teilhabe am Gespräch nicht verlieren (a.a.O., 247f). Dann jedoch geschieht etwas<br />

im Gang der Arbeit Merkwürdiges 68 . Neben dem Autor der Arbeit, der seine kriti-<br />

68 vgl. a.a.O., 248. Die entsprechende Passage befindet sich vollständig in Anhang 6.1.3, S. 283.

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