das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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242 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />
kann. Die Fähigkeit zum Verständnis dieser für einen Literaturunterricht im Kontext<br />
der literaturdidaktischen Interaktionsfigur „Identifikation und Differenz“ zentralen<br />
Dynamik kann gleichwohl als wichtige Ausbildungsperspektive betrachtet werden.<br />
Während die Reflexion des Seminargeschehens gruppenöffentlich geschah und so<br />
die Pendelbewegung zwischen Textnähe und Textdistanz als Teil von<br />
Ausbildungsprozessen explizit vollzogen wurde, zeigen die folgenden zwei<br />
Beispiele aus dem schulischen Literaturunterricht die überwiegend symbolische<br />
Form der Thematisierung der Dynamik des literaturrezipierenden Unterrichtsgeschehens.<br />
4.3.1 Bloß nicht unter die Räder kommen: Anpassung als Widerstand<br />
Unter der Überschrift „Bloß nicht unter die Räder kommen“ soll dabei zunächst eine<br />
Unterrichtseinheit aus einer 10. Gymnasialklasse in einigen wenigen ausgewählten<br />
Szenen betrachtet werden, die Hermann Hesses Roman „Unterm Rad“ (Hesse 1905)<br />
zum Gegenstand hatte.<br />
Für den Lehrer war die Arbeit in dieser zehnten Klasse von Anfang an durch die<br />
deutliche Überzahl der Jungen über die Mädchen geprägt. Er hatte die Klasse zu<br />
Beginn der neunten Jahrgangsstufe übernommen und fühlte sich als Mann von<br />
Anfang an in besonderer Weise gefordert und angesprochen. Er hatte sich daher<br />
vorgenommen, mit Aspekten von Männlichkeit und Weiblichkeit sehr bewusst<br />
umzugehen. In der zehnten Klasse wurde dann u.a. Hermann Hesses Roman<br />
„Unterm Rad“ gelesen. Der Lehrer hatte bereits früher gute Erfahrungen mit<br />
dem Buch gemacht, hatte den Eindruck, die Lektüre des Romans mache den<br />
Schülern nicht nur Spaß, sondere fordere sie auch und rege sie an, sowohl thematisch<br />
als auch hinsichtlich der Möglichkeiten der Textarbeit. Das Buch war<br />
nicht verordnet worden, es hatte Alternativen gegeben; aber es war den Schülern<br />
wohl deutlich geworden, <strong>das</strong>s der Lehrer „Unterm Rad“ unter den Alternativen<br />
favorisierte. Und siehe da, die Schüler entschieden sich bereitwillig für <strong>das</strong> Buch.<br />
Die Favorisierung des Hesse-Texts durch den Lehrer erscheint plausibel nicht nur<br />
vor dem Hintergrund der Empfehlung der Rahmenrichtlinien (Niedersächsisches<br />
Kultusministerium (Hrsg.), 1993, 35), sondern auch und gerade wegen seines thematischen<br />
Angebots. Seine Beschäftigung mit männlicher Adoleszenz 21 bot sich für<br />
diese Klasse als eine sinnvolle Möglichkeit an, die schulischen Lektüreaufgaben mit<br />
der Erfahrungen <strong>literarischer</strong> Gratifikation zu verbinden. Die entwicklungstypischen<br />
Konstellationen erscheinen in historischer Distanz, womit der Roman jene Spannung<br />
zwischen Leser-Subjekt und Text-Objekt unterstützt, die für <strong>das</strong> Oszillieren zwi-<br />
21 „Unterm Rad“ fokussiert männliche Adoleszenz in der Geschichte von Hans Giebenrath, der als<br />
auserwählter und begabter Schüler die Lateinschule besuchen darf. Die Erwartungen, denen er sich<br />
konfrontiert sieht, belasten ihn zunächst nur unmerklich, der Leistungsdruck lässt ihn aber mehr und<br />
mehr in sich zusammensinken. Im Internat lernt er den begabten, selbstständigen und lyrisch-literarisch<br />
aktiven Hermann Heilner kennen. Ihre Freundschaft entwickelt sich zu einer kurzen, aber intensiven<br />
Jungenfreundschaft, mit entwicklungstypischen homoerotischen Facetten. Giebenrath wird unter<br />
den Belastungen der Schule krank, muss <strong>das</strong> Internat verlassen und macht in seiner Heimatstadt eine<br />
Lehre und lernt die eher triebhafte Seite des Lebens kennen, an der er zerbricht.