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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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4 Literatur - Interaktion - Identität: Fallbeispiele aus dem Literaturunterricht 223<br />

4.1.2 „Antigone“: Geschwisterliches im Text und in der Lerngruppe<br />

Die Betrachtung der Qualitäten dieser im vorigen Abschnitt als Raum produktiver<br />

Textrezeption bezeichneten Dimension der literaturunterrichtlichen Interaktion soll<br />

an einem zweiten Fallbeispiel vertieft und als „intermediärer Raum“ (Winnicott<br />

1971, 11) konzeptualisiert werden.<br />

Thema des Unterrichts in einem Leistungskurs Deutsch im 12. Jahrgang war<br />

Sophokles Tragödie „Antigone“. Der Prolog (Verse 001-099) sollte von den Schülern<br />

szenisch erarbeitet werden. 6 Die Schüler erhalten den Auftrag, die Figurenkonstellation<br />

in einem Standbild darzustellen, Gefühle und Gedanken als Figur in der<br />

dargestellten Situation zum Ausdruck zu bringen und sich dann im Rollengespräch<br />

vom Spielleiter - hier dem Lehrer - befragen zu lassen. Zur Vorbereitung bekommen<br />

sie Einfühlungsfragen (Scheller 1989, 49f; 1998, 118ff), die neben einer<br />

allgemeinen Einfühlung in die Person der Frage der Haltung zur Familie und zum<br />

Recht besondere Aufmerksamkeit widmen. Dabei geht es auch darum, ein Bewusstsein<br />

der Stärken und der Schwächen der jeweiligen Figur zu gewinnen.<br />

Neben anderen stellten auch Kerstin (Antigone) und Marion (Ismene) ihr<br />

Standbild vor. In der Befragung in der Rolle kritisierte Antigone-Kerstin ihre<br />

Schwester Ismene-Marion für ihren „Verrat“ am Bruder und ihre „Unterwerfung“<br />

unter <strong>das</strong> Recht des Königs Kreon. Antigone-Kerstin trug ihre Rolle sehr<br />

stark vor, Ismene-Marion wurde zunehmend unsicher und vermochte immer<br />

weniger, mit ihrer „schwesterlichen Kontrahentin“ mitzuhalten. Sie war von der<br />

Stärke und Macht ihrer „Schwester“ überrollt, was durchaus der Konstellation<br />

im Stück entspricht. Der Lehrer beobachtete aber, <strong>das</strong>s Marion zunehmend nervös<br />

und unsicher wurde, sie erbleichte, zeigte deutliche Körpersensationen von<br />

Unwohlsein, ja Angst. Angesichts dieser Situation musste der Lehrer sicherstellen,<br />

<strong>das</strong>s Marion den Unterricht nicht nur unbeschadet, sondern möglichst gestärkt<br />

verlassen konnte. Dies kann dadurch geschehen, <strong>das</strong>s Marion-Ismene im<br />

Spiel gestärkt wird und damit ihre Ich-Funktionen angesprochen werden, indem<br />

sie etwa aufgefordert wird, <strong>das</strong> Verhalten Antigones-Kerstins sowie die Qualitäten<br />

und die Stärke des eigenen Familiensinns zu beurteilen. Darüber hinaus<br />

galt es Marion zu helfen, ihre Stärken zu erleben. So bietet <strong>das</strong> szenische Spiel<br />

die Möglichkeit des Rollentauschs, wobei Marion die Rolle der Antigone übernommen<br />

und damit die starke Position gespielt und erfahren hätte. In der konkreten<br />

Situation war Marion-Ismene allerdings nicht ohne Hilfe in der Lage, einen<br />

dieser Wege zu gehen. Der Lehrer forderte daher einzelne Mitschülerinnen<br />

auf, als Double (Yablonski 1976, 11f) hinter Marion-Ismene zu treten, für sie zu<br />

sprechen und ihr so ein Stück ihrer Stärke zurückzugeben und die regressive<br />

6 In diesem Prolog beweinen die Töchter des Ödipus, Antigone und Ismene, den Tod ihrer Brüder Eteokles<br />

und Polyneikes, die im Zweikampf gegeneinander gefallen sind. Polyneikes hatte ein Heer gegen<br />

die Vaterstadt Theben geführt. Seine Beerdigung war daraufhin von Kreon, dem jetzigen Herrscher<br />

Thebens und Onkel der vier Geschwister, untersagt worden. Antigone empfindet Kreons Verbot<br />

als tyrannisch. Ismene will dem Verbot gehorchen, will Ruhe in der Familie halten. Sie fürchtet nach<br />

Polyneikes und Eteokles auch noch Antigone zu verlieren, wenn diese sich gegen Kreon auflehnt.<br />

Antigone will den Bruder beerdigen und ist zum Widerstand gegen Kreon bereit. Äußerst scharf kritisiert<br />

sie Ismene für ihr „unschwesterliches“ Verhalten.

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