das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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248 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />
als Zeichen der Betroffenheit entstanden war: „Ich will eine solche Intimität<br />
nicht, darauf will ich mich gar nicht einlassen!“ Das Gefühl, <strong>das</strong> die Gruppe in<br />
dieser Situation zu bestimmen schien und <strong>das</strong> der Grund für Karstens Mitteilung<br />
gewesen sein mag, kann als in der Gegenübertragungsreaktion des Lehrers<br />
gespiegelt betrachtet werden. In seinem Arbeitstagebuch notierte er nach der<br />
Stunde: „Ich fühle mich etwas schwimmend, die Stunde hat auch mir etwas den<br />
Boden unter den Füßen weggezogen, ich fühle mich selbst nicht mehr unbedingt<br />
sicher!“ Die erste unterrichtliche Reaktion des Lehrers war die der Systematisierung,<br />
indem er die Begriffspaare Verschiebung / Verdichtung und Metapher<br />
/ Metonymie an den Texten der Schüler verdeutlichte und dabei verstärkt<br />
auf Nachdenken über Christa T. verwies. Diese Einstiegssequenz hatte trotz der<br />
Systematisierung am Ende in der Gruppe den Eindruck hinterlassen, <strong>das</strong>s es bei<br />
der Arbeit mit Christa Wolfs Text in hohem Maße auch um <strong>das</strong> Eigene, um die<br />
eigene Identität gehen werde, ein Nachdenken über die Gruppe sein werde.<br />
Die Erfahrungen in einem literarischen Selbstversuch, der zur Erkenntnis über die<br />
sprachliche Strukturierung von Erinnerung und die Prinzipien der Erinnerungsarbeit<br />
führt, und die Übertragung der Erkenntnisse auf „Nachdenken über Christa T.“ sind<br />
wiederholbar. Mit dieser Kombination von <strong>literarischer</strong> Erfahrung und Textbetrachtung<br />
ist ein didaktisches Prinzip verknüpft, <strong>das</strong> sich unentwegt mit der Ambivalenz<br />
aus Faszination und Abwehr konfrontiert sieht.<br />
Die Entzifferung von Sätzen wie „Endgültig abgewiesen, suchen wir Trost im Vergessen,<br />
<strong>das</strong> man Erinnerung nennt.“ (Wolf 1968, 9) trifft den Kern der Bemühungen<br />
der Schüler aus dem literarischen Selbstversuch, sich ihrer selbst zu vergewissern.<br />
Die Erkenntnis, <strong>das</strong>s biografische Wahrheit konstruierte Wahrheit ist, sensibilisiert<br />
gleichermaßen für <strong>das</strong> Strukturprinzip von Christa Wolfs Buch, aber auch für <strong>das</strong><br />
darüber hinausweisende Prinzip der symbolgetragenen Identitätsbildung, der Prinzipien<br />
des sprachlichen Sich-seiner-selbst-Vergewisserns. Der Unterrichtsprozess ist<br />
dabei aber alles andere als geradlinig an dieser Erfahrung und Erkenntnis orientiert.<br />
Immer wieder lassen sich Störungen feststellen, die nur scheinbar dysfunktional<br />
sind.<br />
Kaum eine Stunde begann in dieser Phase der Unterrichtsarbeit ohne einen<br />
Kampf ums unterrichtliche Setting. Beliebter noch und symptomatischer für<br />
den Prozess als die sich wiederholenden Fragen nach dem Stand der Vorbereitungen<br />
der geplanten Kursfahrt waren Aktionen, die sich um <strong>das</strong> Öffnen der<br />
Fenster herumrankten. Gerade Karsten und Paul schienen es für die Gruppe<br />
übernommen zu haben, Widerstand und Fluchttendenzen zu thematisieren.<br />
Demonstrativ gingen sie zu Beginn einer Stunde zum Fenster, rissen es lautstark<br />
auf und rüpelten dabei vernehmbar vor sich hin: „Hier stinkt’s, lass uns mal <strong>das</strong><br />
Fenster aufmachen!“ Dies verstand der Lehrer auch als den Ausdruck der<br />
Gruppenfantasie, eine Verbindung zur Realität außerhalb der Gruppe offen<br />
halten zu wollen, sich der Beschäftigung mit dem Thema der Identität durch<br />
fantasierte Flucht durch die geschaffene Öffnung nach draußen zu entziehen.<br />
Nicht nur die Schüler jedoch vermieden <strong>das</strong> Thema der Identität bzw. die Aufgabe,<br />
für den Arbeitsprozess eine Form zu finden, in der <strong>das</strong> Thema für die<br />
schulische Lerngruppe bearbeitbar werden konnte. Auch der Lehrer war in die