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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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254 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />

So betonte eine Gruppe auf der Grundlage einer eher sozialhistorischen Methodologie<br />

mehr die Seite der äußeren Realität, spürte der Biografie der Autorin<br />

nach, rekonstruierte die Spuren der historischen Realität der DDR in Nachdenken<br />

über Christa T. und beschäftigte sich auf der Grundlage der von Angela <strong>Dr</strong>escher<br />

herausgegebenen Dokumentation (<strong>Dr</strong>escher (Hrsg.) 1992) mit der Publikationsund<br />

Rezeptionsgeschichte von Nachdenken über Christa T. Interessanterweise<br />

fanden sich in dieser Gruppe auch diejenigen Schüler, die sich bis zum Ende<br />

nicht auf die spezifische Thematik von Christa Wolfs Text einlassen konnten. In<br />

einer dem Prinzip der SED-Kulturbürokratie nicht unähnlichen, inhaltlich allerdings<br />

entgegengesetzten Weise lasen sie <strong>das</strong> Buch als realistische Erzählung und<br />

beurteilten es dann in seiner kritischen Haltung zur DDR als nicht konsequent<br />

genug. In Christa T.s „Angst, einem selbst könne zustoßen, was gang und gäbe<br />

war: spurlos zu verschwinden“ (Wolf 1968, 38) lasen die Schüler „Angst vor der<br />

Stasi (...,) die in der DDR herrschte“ (aus dem Gruppenbericht). Die Lesart ließ<br />

sich begründen, den Aspekt, <strong>das</strong>s mit dem „Spurlos“-Bleiben auch die Frage des<br />

Selbst-Gefühls, der eigenen Position in Bezug auf die gesellschaftliche Realität<br />

gemeint war, konnten diese Schüler für sich aber nicht zulassen.<br />

Eine Schülerin aus dieser Gruppe jedoch, die zu Beginn der Arbeit an Nachdenken<br />

über Christa T. dem Text äußerst ablehnend gegenübergestanden hatte und<br />

auch den Lehrer ihren Ärger und ihre Wut über <strong>das</strong> Buch spüren ließ, fand v.a.<br />

in der Auseinandersetzung mit Christa Wolfs Biografie, wie sie ihr durch Zusatzmaterialien<br />

(v.a. Stephan 1976, Dahn/Mund 1991) bekannt wurde, einen<br />

Zugang zum Buch und ihrer Autorin. Ihre Beziehung zu dem Text wurde intensiv<br />

und tief. Wie tief, zeigte sich erst einige Jahre später auf tragische Weise, als<br />

sie als älteste Tochter die Todesanzeige für ihre alleinerziehende Mutter nach<br />

deren tragischen Unfalltod verfassen musste und dazu auf „Nachdenken über<br />

Christa T.“ und insbesondere die folgende Textpassage zurückgriff: „Kein Ohr<br />

mehr Klagen zu hören, kein Auge, Tränen zu sehen, kein Mund, Vorwürfe zu<br />

erwidern. Klagen, Tränen, Vorwürfe bleiben nutzlos zurück. Endgültig abgewiesen,<br />

suchen wir Trost im Vergessen, <strong>das</strong> man Erinnerung nennt.“ (Wolf 1968,9).<br />

Eine zweite Gruppe hatte die Erzählerin, ihren Erzählprozess sowie ihre Verbindung<br />

zur Autorin und deren Auffassungen zum Schreiben zum Thema.<br />

Mittels biografischer (Stephan 1976, Wolf 1987), psychoanalytischer (Freud<br />

1908e, 1917[15]) und literaturtheoretischer (Schulze 1979) Zusatzmaterialien<br />

analysierte die Gruppe den Schreibprozess in Nachdenken über Christa T. als Prozess<br />

der Selbstfindung, bei dem „die Ausbildung mehrerer Persönlichkeiten innerhalb<br />

einer Person, eine Persönlichkeitsspaltung in grundverschiedenen<br />

Richtungen, mit der Absicht (herbeigeführt werde, um) durch eine konfliktlösende<br />

Handlung, die die einzelnen Persönlichkeiten in der Vorstellung des Betroffenen<br />

ausführen, alle in Disharmonie gebrachten Teile wieder zu einer einzigen<br />

Person zusammenzuführen.“ (aus dem Gruppenbericht)<br />

Die dritte Gruppe beschäftigte sich mit der literarischen Figur der Christa T.,<br />

rekonstruierte auf der Basis des Buchs ihre Biografie und ihren Charakter und<br />

konzentrierte ihre Darstellung um die Frage, wie Christa T. schreibt und was ihr<br />

<strong>das</strong> eigene Schreiben bedeutet. Minutiös und textphilologisch genau erkundete<br />

die Gruppe der drei Schülerinnen <strong>das</strong> Buch und reflektierte dabei immer wieder<br />

ihren eigenen Arbeitsprozess. Dabei entdeckte sie Parallelen zwischen sich und

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