das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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3 Literaturdidaktische Interaktionsfiguren – eine systematische Rekonstruktion 213<br />
Wie sich am Konzept der Handlungs- und Produktionsorientierung zeigt, ist der<br />
Umgang mit Nähe und Distanz über <strong>das</strong> Wesen des Ästhetischen, <strong>das</strong> Affekte mit<br />
umfasst, substantiell in die literaturdidaktische Interaktionsfigur der literarischen<br />
Sozialisation eingeschrieben. Daher müsste es im Literaturunterricht darum gehen,<br />
Affekte als notwendigen Bestandteil der Sache und des didaktisch-methodischen<br />
Handelns nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu nutzen. Was dies im Kontext<br />
handlungs- und produktionsorientierter Methoden gerade für den kritischen Moment<br />
des Übergangs von der Erstrezeption zur vertiefenden Rezeption eines Texts heißen<br />
könnte, soll abschließend zu den Darstellungen zur literaturdidaktischen Interaktionsfigur<br />
„Identifikation und Differenz“ an Erfahrungen angedeutet werden, wie sie<br />
von Doris Mauthe-Schonig (1995) im Reflex auf einen „Anfangsunterricht mit den<br />
Geschichten von der kleinen weißen Ente“ (Mauthe Schonig u.a. 1987, 2000) entfaltet<br />
werden.<br />
Entscheidend am Prozess der kreativen Gestaltung und an einem ästhetischen Reflex<br />
auf ein ästhetisches Gebilde, sei dies nun ein Gedicht oder eine vorgelesene Geschichte<br />
oder etwas Ähnliches, ist der Schritt von der Wahrnehmung zur Eigentätigkeit.<br />
In ihm ist <strong>das</strong> Moment der symbolbildenden Kreativität angesiedelt (vgl.<br />
Mauthe-Schonig 1995, 23ff). Die Erstpräsentation des Unterrichtsgegenstandes, im<br />
Falle des Beispiels von Gudrun Schulz ist es <strong>das</strong> vom Lehrer vorgelesene Gedicht,<br />
bei Doris Mauthe-Schonig sind es die Vorlesegeschichten von Loni, Lino und dem<br />
Zwerg Otto (Mauthe-Schonig u.a. 1987, 23-69 sowie 2000, 10 - 66), geschieht in<br />
einem Rahmen, der über seinen Vorlesecharakter szenisch mit der häuslichen Vorlesesituation<br />
verknüpft ist. Sowohl im Bezug auf den Lehrer als auch bezüglich der<br />
Gruppe der Mitschüler können die Kinder ein intensives Zusammensein, ein Erleben<br />
von Gemeinschaft erfahren, <strong>das</strong> mitunter auch regressiv an kuschelige Situationen<br />
Zuhause erinnern kann. Der Moment des Endes der Präsentation und der Übergang<br />
in die Eigenaktivität stellt einen Augenblick der Leere dar. Er ist die notwendige<br />
Voraussetzung für die symbolbildende, ästhetische Tätigkeit des Kindes. Dabei sind<br />
die Nähe des Vorher und die Distanz des Nachher über <strong>das</strong> Symbol miteinander verknüpft,<br />
<strong>das</strong> handelnd und produktiv nur dann entsteht, wenn auch die Lehrer die Differenz<br />
von Nähe und Distanz in ihrer Wahrnehmung der Handlungssituation erkennen<br />
und zulassen können. Immer dann, wenn nur die Methoden im Vordergrund eines<br />
handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts stehen, wenn die<br />
Anweisungstechniken, die Handlungsschritte, die Unterrichtsmaterialien etc. die<br />
Wahrnehmung der Interaktion und die Reflexion der Beziehungsdynamik überdecken<br />
oder gar verhindern, besteht die Gefahr, <strong>das</strong>s die Methoden genau verhindern,<br />
was <strong>das</strong> eigentliche Ziel der Handlungen und Produktionen sind: Leser mit ästhetischen<br />
Texten und damit mit sich und der sie umgebenden Welt auf ästhetische<br />
Weise in Kontakt und Auseinandersetzung zu bringen, literarische Sozialisation als<br />
Sozialisation durch und zu Literatur zu befördern.