das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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4 Literatur - Interaktion - Identität: Fallbeispiele aus dem Literaturunterricht 245<br />
sen um <strong>das</strong> literarische System. Sprache ist unabhängig davon, ob sie eher funktional<br />
als Kommunikationsmittel oder eher genetisch als „Ergon“ und „Energeia“ (vgl.<br />
Humboldt 1830ff, 418) verstanden wird, nicht nur ein kommunikativ-expressives<br />
Medium, sondern gleichzeitig ein kommunikativ-reflexives Medium. Sie ist <strong>das</strong> Eigene<br />
und <strong>das</strong> Andere, sie ist als Teil der Welt der Zeichen immer auch rückbezogen<br />
auf die Subjekte, die von ihr Gebrauch machen und von ihr geprägt werden. Und<br />
dieser Rückbezug kann irritierend sein, kann gerade in literarischen Rezeptionsprozessen<br />
Ausdruck einer literarischen Differenz<strong>erfahrung</strong> anderer Qualität sein, als der<br />
wie sie Waldmann beschreibt (1988, 229ff). Die Differenz der ästhetischen Sprache<br />
von der Sprache des Alltags kann nicht nur sprachpragmatisch im Sinne der Verwendung<br />
von Sprache in unterschiedlichen Anwendungskontexten beschrieben werden.<br />
Diese Differenz hat eine tiefere Bedeutung, insofern sie mit der Erfahrung einer<br />
differenten Positionierung des Subjekts in Bezug auf die soziale Realität, in Bezug<br />
auf Andere und in Bezug auf <strong>das</strong> Selbsterleben des Subjekts selbst verbunden<br />
ist. So ist die Wahl einer auktorialen Erzählperspektive sowohl die Entscheidung für<br />
eine bestimmte literarische Machart im Gefüge der differenten Möglichkeiten des<br />
literarischen Handwerks. Sie ist gleichzeitig eine Positionierung des erzählenden<br />
sowie des rezipierenden Subjekts in Bezug auf die erzählte Realität. Eine andere<br />
Wahl <strong>literarischer</strong> Gestaltungsmittel positioniert auch <strong>das</strong> rezipierende Subjekt anders,<br />
kann es verwirren und in Widerstand zum Text bringen, weil es in Opposition<br />
gebracht ist zu einer vertrauten Sichtweise, zu einer Selbstverständlichkeit, die durch<br />
die literarische Erfahrung ihrer Natürlichkeit beraubt wird und so die Chance auf<br />
Veränderung und Entwicklung erhält.<br />
Eine solche literarische Erfahrung führt Subjekte notwendigerweise auch an Grenzen<br />
und ist mit Risiken ebenso behaftet wie mit Irritationen und wird häufig begleitet<br />
von dem verständlichen Wunsch, Risiko und Irritation zu vermeiden, der Konfrontation<br />
mit dem Irritierenden auszuweichen. Schulischer Literaturunterricht<br />
macht da keine Ausnahme, ist aber im Unterschied zur Situation der Privatlektüre<br />
durch institutionelle Verpflichtungen und Zwänge gekennzeichnet, die ein den Irritationen<br />
ausweichendes Lektüreverhalten erschweren, verhindern bzw. mitunter<br />
auch nachhaltig sanktionieren. Widerstand gehört in diesem Sinne zu Entwicklung<br />
dazu, und Lernen ist ja immer auch Entwicklung. Die Überwindung von Differenz<br />
und Irritation in Lernprozessen ist aber gerade im Bereich des literarischen Lernens<br />
mehr und Anderes als <strong>das</strong> Wiederherstellen eines Gleichgewichtszustands, wie ihn<br />
die Kognitionspsychologie im Begriff der Äquilibration als zentral für Lernprozesse<br />
fasst (vgl. Ginsburg/Opper 1969 217ff). Dem Konzept der Äquilibration fehlt <strong>das</strong><br />
für Prozesse des literarischen Lernens zentrale Moment des interaktionellen Gefüges,<br />
in <strong>das</strong> <strong>das</strong> Lernen eingebunden ist. Dabei ist die Interaktion – etwa die zwischen<br />
Lehrern und Schülern – nicht nur der sprachlich-interpersonale Raum, innerhalb<br />
dessen <strong>das</strong> Lernen stattfindet. Die Interaktion kann selbst zu einer wesentlichen<br />
Ebene des Lernprozesses werden. Das obige Beispiel zur Peter-Weiss-Rezeption in<br />
einem literaturdidaktischen Seminar (vgl. oben, S. 240f) hat die interaktionelle<br />
Bedeutung des literarischen Verstehens deutlich gemacht. Gerade die Lektüre von