das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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4 Literatur - Interaktion - Identität: Fallbeispiele aus dem Literaturunterricht 247<br />
Buch ein erstes Mal für sich lasen, beschäftigte sich der Kurs im Unterricht mit<br />
einer theoretischen Einführung in Grundlagen der Semiotik (Umberto Eco).<br />
Die Schüler bemängelten die Schwierigkeit des Ecoschen Gedankengangs, was<br />
bei dem Lehrer eine Haltung von „Da müsst ihr durch! Es wird nicht gekniffen!“<br />
hervorrief. In die Beschreibung der Schwierigkeiten mit Ecos Überlegungen<br />
zum Zeichen mengte sich die Mitteilung erster Eindrücke der Schüler von<br />
ihrer Lektüre von Nachdenken über Christa T. Auch in diesen Mitteilungen ging es<br />
um die Schwierigkeit, dem Gelesenen zusammenhängenden Sinn zu entnehmen.<br />
Dass hier keine einfache Geschichte, kein geradlinig erzählter Roman vorlag,<br />
darüber tat sich ein deutliches Murren kund.<br />
Mit dem Hinweis, <strong>das</strong>s es genau darum gehe, Sinn zu entziffern, <strong>das</strong>s die Auseinandersetzung<br />
mit den Schwierigkeiten Gegenstand der Lektürearbeit sein<br />
müsse, begegnete der Lehrer den Einwänden seiner Schüler, konnte aber nicht<br />
die emotionale Spannung entschärfen: Es blieb ein Gefühl von Kampf zwischen<br />
ihm und den Schülern.<br />
Ein Prinzip der gemeinsamen Arbeit im Leistungskurs war es, Prozesse kreativen<br />
Schreibens in die Arbeit an literarischen Texten einzuflechten. Daher schlug<br />
der Lehrer vor, sich mit der für Nachdenken über Christa T. so wichtigen Technik<br />
assoziativen Schreibens in einem kreativen Selbstversuch zu nähern. Geplant<br />
war in diesem Zusammenhang auch, die Kenntnis <strong>literarischer</strong> Darstellungsweisen<br />
wie „innerer Monolog“ und „stream-of-consciousness“ auf praktische Weise<br />
zu vertiefen. Gleichzeitig sollten die Schüler mit den gestalterischen Möglichkeiten<br />
von Metapher und Metonymie (Jakobson 1935) sowie deren<br />
psychoanalytischen Entsprechungen in der Traum- und Erinnerungsarbeit<br />
(Verdichtung und Verschiebung) bekannt gemacht werden (Freud 1900a, 280-<br />
308; 1901a), um für <strong>das</strong> Entziffern autobiografischer Erzählstrukturen und der<br />
Konstitution biografischen Sinns auch ein analytisches Rüstzeug zur Verfügung<br />
gestellt zu bekommen.<br />
Die Schüler erhielten die Aufgabe, eine Tagebuchnotiz anzufertigen oder einen<br />
Traum aufzuschreiben und dabei in einem zweiten Schreibdurchgang zu dem<br />
Text der ersten Fassung frei zu assoziieren, also an einer beliebig erscheinenden<br />
Stelle einzuhaken und sich von den Gedanken und Assoziationen davontragen<br />
zu lassen und diese aufzuschreiben. Die meisten Schüler hatten etwas geschrieben,<br />
nicht alle jedoch waren bereit <strong>das</strong> Aufgeschriebene vorzutragen und ihre<br />
Texte der gemeinsamen Unterrichtsarbeit zur Verfügung zu stellen. Auch diejenigen<br />
jedoch, die ihre Texte nicht vortragen wollten, bekundeten, <strong>das</strong>s die Erledigung<br />
der Aufgabe viel bei ihnen in Bewegung gebracht, Erinnerungen geweckt,<br />
einen Auseinandersetzungsprozess mit sich und der eigenen Vergangenheit<br />
angestoßen habe. Ein Tagebuchtext und ein Traum wurden dann im Unterricht<br />
näher behandelt. Die einzelnen Inhalte der Texte sollen hier nicht näher<br />
geschildert werden, sie zeigten beide jedoch die Überdeterminiertheit von Erinnerungs-<br />
und Traumbildern. Beide Texte hatten zudem sowohl manifest als<br />
auch latent mit der Eltern-Kind-Beziehung zu tun, thematisierten Trennung und<br />
Geborgen-Sein, enthielten Wünsche und Fantasien sowohl präödipalen als auch<br />
ödipalen Ursprungs. Die Nähe und Intimität, die durch diesen Gruppenprozess<br />
entstanden waren, führten dann bei einigen Schülern zu deutlicher Abgrenzung.<br />
So sagte Karsten in die Stille hinein, die nach dem Verlesen der Texte im Kurs