das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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4 Literatur - Interaktion - Identität: Fallbeispiele aus dem Literaturunterricht 249<br />
Abwehr eingebunden. Seine Versuche, durch entsprechende Tafelbilder, literarhistorische<br />
Einordnungen etc. zur Systematisierung beizutragen, mag wohl<br />
fachdidaktisch Sinn gemacht haben, beziehungsdynamisch lief er ins Leere.<br />
Dies Widerständige als Ausdrucksform des Gruppenunbewussten, <strong>das</strong> sich auch in<br />
anderen Kontexten beobachten lässt, wird von Lehrern häufig als Störung empfunden,<br />
die keinen funktionalen Zusammenhang zum Unterricht hat. Störungen dieser<br />
Art erscheinen jedoch nur dann dysfunktional, wenn man die Arbeitsbeziehung in<br />
der Gruppe als ausschließliches Kriterium für die Beurteilung des Prozesses heranzieht.<br />
Berücksichtigt man aber auch die weitgehend unbewusste Beziehungsdynamik,<br />
versteht man <strong>das</strong> Geschehen somit als Szene, die durch die Übertragungsbeziehungen<br />
und den szenischen Gehalt von „Nachdenken über Christa T.“ ausgelöst<br />
wurde, dann kann <strong>das</strong> so sich äußernde Gruppenunbewusste insofern als funktional<br />
betrachtet werden, als es die „konfrontative Selbstthematisierung der Gruppenpraxis<br />
auf den Entwicklungsstand der Bewältigungskompetenz der Teilnehmer abstimmt.“<br />
(Haubl/Lamott 1994, 12)<br />
Eine solche Perspektive hätte den diese Prozesse initiierenden szenischen Gehalt<br />
von „Nachdenken über Christa T.“ zu untersuchen. Dazu müssten Thema und Form<br />
des Textes von Christa Wolf mit der Psychodynamik der Spätadoleszenz verglichen<br />
werden, als deren „phasenspezifische Hauptaufgabe“ Werner Bohleber die<br />
Identitätsbildung bezeichnet (1993, 52).<br />
Dass die Fragen der gesellschaftlichen und sprachlichen Bedingungen der menschlichen<br />
Identität <strong>das</strong> zentrale Thema von „Nachdenken über Christa T.“ sind, macht<br />
bereits <strong>das</strong> Johannes R. Becher entlehnte Motto des Buchs deutlich: „Was ist <strong>das</strong>:<br />
Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?“ (Wolf 1968, 5). Auf die Tatsache,<br />
<strong>das</strong>s Christa T. letztlich nicht der wesentliche Gegenstand des Buchs ist, weisen zudem<br />
mehrere Hinweise hin. Da ist zunächst derjenige auf sie als „literarische Figur“<br />
trotz aller authentischer Materialien (ebenda, 7), die in den Text eingeflossen sind.<br />
Da ist die Aussage „Sie braucht uns nicht (...) wir brauchen sie.“ (ebenda, 10), die<br />
die an sie gewendete Arbeit (a.a.O.) in an ‘uns’ gewendete Arbeit verwandelt. Und<br />
da ist schließlich <strong>das</strong> Bekenntnis der Tatsache im „Selbstinterview“,<br />
„daß <strong>das</strong> Objekt meiner Erzählung gar nicht so eindeutig sie, Christa T., war<br />
oder blieb. Ich stand auf einmal mir selbst gegenüber, <strong>das</strong> hatte ich nicht vorhergesehen.“<br />
(Wolf 1966, 32)<br />
„Nachdenken über Christa T.“ kann also als (auto-)biografischer Text der Erzählerin<br />
verstanden werden, in der diese den Verlust eines „Mensch(en), der mir nahe war“<br />
(ebenda, 31) betrauert und durch Trauerarbeit zu überwinden versucht. Ganz im<br />
Sinne von Freuds Anmerkungen zur Funktion der Trauerarbeit (Freud 1917[15])<br />
vollzieht die Erzählerin die durch den realen Verlust eines Menschen erzwungene<br />
Umorganisation ihrer inneren psychischen Struktur durch Arbeit an der psychischen<br />
Repräsentanz des Objekts. Die Objekt-Repräsentanzen sind aber als Elemente der