das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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196 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />
ren Rücksichten gedämpfte Unlust, über etwas zu sprechen, von dem sie<br />
sachlich wenig verstanden. Dazu aber waren sie bisher immer wieder genötigt<br />
worden. (...) Der Lehrer entschied sich deshalb für einen neuen methodischen<br />
Einsatz (...). Charakteristisch für den durch den Methodenwechsel erzeugten<br />
Umschwung in der Haltung den Texten gegenüber ist der Fall der Schülerin<br />
M., die sich bisher betont uninteressiert gegeben und den Unterricht immer<br />
wieder durch Lachen und Reden gestört hatte. Nach einer kleinen Ermunterung<br />
durch den Lehrer, der während der Stillarbeit da und dort eine Anregung<br />
gab oder einen Schritt weiterhalf, lieferte M. eine sehr überlegte Lösung, obwohl<br />
die intellektuell schwache Nebensitzerin den Rollenwechsel mit allen ihr<br />
zu Gebote stehenden Mitteln zu verhindern suchte. Dieses Engagement ließ<br />
auch in den folgenden Stunden nicht nach: M. hatte offenbar <strong>das</strong> Gefühl, einen<br />
Ansatzpunkt zu besitzen, von dem aus sie unterrichtlich mithalten und<br />
von dem aus sie, wenn es darauf ankam, auch mitsprechen konnte.“ (a.a.O.,<br />
477ff)<br />
Hier wird der eben noch unsichtbare Lehrer sichtbar, zunächst als ein im Rahmen<br />
der gängigen Didaktik bemühter, dann als ein scheiternder Lehrer, der <strong>das</strong> Scheitern<br />
mangelnder Vorbereitung der Schüler in früheren Jahren anlastet. Der Text malt <strong>das</strong><br />
Bild eines Lehrers, der sich zum Anwalt der Schüler gegen die sie bisher nötigende<br />
Institution macht, der diese Nötigung nicht fortsetzt und sich damit von einer tradierten<br />
Praxis der Institution lossagt, damit aber den Schülern den Anlass für die<br />
„äußeren Rücksichten“ nimmt, die ihre Unlust dämpfen könnte. Der Lehrer konstatiert<br />
zudem die fehlende „innere Rücksicht“ auf Seiten der Schüler, <strong>das</strong> Gefühl einer<br />
inneren Verpflichtung, auch ohne eigene Beteiligung zu sprechen. Der Anfang der<br />
Schilderung lässt sich mit einem Gefühl der Leere begleiten, er zeigt einen Zustand<br />
der Rat- und Beziehungslosigkeit. Gewissermaßen könnte man auch eine gewisse<br />
Enttäuschung seitens des Lehrers konstatieren, der mit der fehlenden Rücksichtnahme<br />
der Schüler möglicherweise <strong>das</strong> Scheitern Über-Ich-geleiteter Beziehungsmuster<br />
bedauert.<br />
Das Bild zeigt aber nicht nur einen ratlosen Lehrer. Der Lehrer ist auch mit den professionellen<br />
Kompetenzen ausgestattet, auf <strong>das</strong> Geschehen zu reagieren. Dabei erscheint<br />
er als ein unaufdringlicher, hilfreicher Geist, der gleichwohl die Macht besitzt,<br />
die störenden Einflüsse zu bannen.<br />
Irritierend empfinde ich in dieser Schilderung die Darstellung der „Nebensitzerin“.<br />
Bei ihr haben offensichtlich weder die Arbeitsanweisungen noch die<br />
Anregungen des Lehrers gefruchtet, sie ließ sich nicht wie Schülerin M. initiieren.<br />
Ihre Charakterisierung als „intellektuell schwach“ empfinde ich als<br />
aggressive Wendung seitens des Lehrers, die den Kampf aufnimmt, den die<br />
Schülerin begonnen hat, als eine Entwertung der Schülerin und eine Entlastung<br />
von Lehrer und Methode.<br />
Dass die Beziehungsdynamik des Konzepts der Handlungsorientierung auch die Position<br />
des Lehrers in der Hierarchie der Institution erfasst und ihm eine Sprache verschafft,<br />
die seine Abhängigkeit von Vorgesetzten mit einem gewissen Triumph zu<br />
überwinden vermag, zeigt die folgende Szene, die Haas in der ersten Ausgabe seines