das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...
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3 Literaturdidaktische Interaktionsfiguren – eine systematische Rekonstruktion 135<br />
in den Lerngruppen jeweils deutlich stärker vertreten sind. 65 Das Unterrichtsgeschehen<br />
lässt sich also auf der Schülerseite durchaus als weiblich dominiert beschreiben,<br />
wobei daraus hinsichtlich der Gesamtinteraktion der Eindruck einer intensiven<br />
Schülerinnen-Lehrer-Interaktion entsteht, an der die Mehrheit der Schüler nicht teilhaben.<br />
Das Verhalten von Axel könnte also vor diesem Hintergrund auch eine Reaktion<br />
auf die Stärke der Schülerinnen-Lehrer-Beziehung sein, in der er bzw. die<br />
Mehrheit der Jungen möglicherweise keinen Fuß auf den Boden zu bekommen<br />
glaubt. Ein Erklärungsversuch für Axels Verhalten auf dieser Linie könnte zudem<br />
die Tatsache berücksichtigen, <strong>das</strong>s Kafkas Text nicht nur Probleme der sozialen<br />
Identität, sondern sehr stark auch Aspekte der männlichen Geschlechtsidentität behandelt,<br />
bzw. <strong>das</strong>s die soziale Identität als geschlechtlich überdeterminierte Identität<br />
deutlich wird und dabei auch Verletzbarkeit und Irritierbarkeit ‚männlicher Wesen’<br />
zum Ausdruck kommen. Insofern könnten in den Unterrichtsschilderungen Anhaltspunkte<br />
für Motivierungen einer aggressiven Abwehr bei Axel gefunden werden.<br />
Aber auch beim Lehrer lassen sich entsprechende Indizien finden, die von einer größeren<br />
Affinität zu Schülerinnen als zu Schülern zeugen. Im Zusammenhang eines<br />
sehr kursorischen und summarischen Vergleichs zweier Unterrichtssequenzen zu<br />
Lessings „Emilia Galotti“ stellt Werner fest, <strong>das</strong>s ein weiblich dominierter, an<br />
„emanzipierten und feministischen Argumentationsmodellen“ (a.a.O., 148) interessierter<br />
Leistungskurs Deutsch <strong>das</strong> Vater-Tochter-Verhältnis thematisiert, während<br />
eine männlich dominierte 11. Klasse daran kein besonderes Interesse zeigt. Das<br />
Verhalten der 11.-Klässler wird wie folgt gedeutet:<br />
„Für die konventionell denkenden Jungen war die Vater-Problematik kaum<br />
relevant, sie empfanden die patriarchalischen Muster als relativ normal. Interessant<br />
war für sie <strong>das</strong> strategisch-rationale Vorgehen Marinellis, <strong>das</strong> ihnen<br />
einerseits nahestand, <strong>das</strong> sich andererseits im Textzusammenhang als moralisch<br />
problematisch erweist.“ (Werner 1996, 148)<br />
Durch diese Deutung scheint eine Differenz, möglicherweise auch ein aggressiver<br />
Affekt, hindurch. Beides könnte durchaus als Widerhall der negativen ödipalen<br />
Konstellation (vgl. Mertens 1994, 145ff) verstanden werden. 66<br />
Es muss an dieser Stelle aber festgehalten werden, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> von Werner entfaltete<br />
Material nicht mehr als Indizien für diese Deutungen anbietet. Aber es geht in der<br />
65 Die einzelnen Werte sind in Tabelle 8 im Anhang 6.1.2, S. 282 aufgelistet.<br />
66 Versteht man im Sinne von Mertens (1994, 145) <strong>das</strong> aggressive Verhalten Axels als Abwehr des<br />
unbewussten Wunsches nach Nähe zum Lehrer als väterlicher Übertragungsfigur, dann kann die aggressive<br />
Tönung in der Lehrerreaktion auf Axel als projektive Identifikation mit dem Schüler verstanden<br />
werden. Bleibt ein solches Geschehen auch dem Lehrer unbewusst, so festigt die Interaktions<strong>erfahrung</strong><br />
möglicherweise hinsichtlich der literarischen Sozialisation von Jungen einen negativen Affekt<br />
gegenüber dem Feld des Literarischen, <strong>das</strong> als weiblich konnotiertes Feld in dem Maße abgewehrt<br />
wird, wie der Lehrer eine männliche Besetzung des Literarischen verhindert, weil er sich in aggressiver<br />
Abkehr von den Jungen den Mädchen zuwendet. Vergleiche hierzu auch <strong>Steitz</strong>-Kallenbach (2001)<br />
sowie Bilden (1991).