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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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6 <strong>Jörg</strong> <strong>Steitz</strong>-Kallenbach<br />

1.1 Interaktionsprozesse in einem literaturdidaktischen Seminar<br />

Während der Seminarleiter die Sitzung einleitet, betritt Herr Behrend den Seminarraum.<br />

Er entschuldigt sich, <strong>das</strong>s er zu spät kommt, was in der Wahrnehmung<br />

des Seminarleiters wie ein Ritual wirkt, denn er kommt immer zu spät. Er<br />

kommt auch nicht „schuldbewusst“ in den Raum, gibt sich zwar zurückhaltend,<br />

was bei seiner stattlichen Erscheinung aber kaum wirklich gelingt, wohl auch,<br />

wie der Seminarleiter in dem Moment denkt, nicht wirklich gewollt ist. Herr<br />

Behrend inszeniert sein Kommen sehr deutlich, als wolle er dem Seminar sagen:<br />

„Ich bin jetzt auch da, und ihr sollt mich alle wahrnehmen und euch mit meiner<br />

Ankunft beschäftigen.“<br />

Frau Leitner übernimmt in der zentralen Phase der Sitzung als Bildhauerin die<br />

Aufgabe, „Die Küchenuhr“ in eine Folge von Standbilder zu übersetzen. Für die<br />

Rollen der in Borcherts Text auf einer Bank sitzenden Figuren, denen sich der<br />

junge Mann nähert, wählt sie Frau Haller und Frau Nerwig, die Rolle des jungen<br />

Mannes, der Zentralfigur der Borchert’schen Erzählung, ‚besetzt’ sie mit Herrn<br />

Behrend. Mit einer gewissen Zurückhaltung stellen sich die Ausgewählten zur<br />

Verfügung. Frau Leitner als Bildhauerin ist jedoch kaum zu bremsen, ihr Engagement<br />

kontrastiert mit einer immer deutlicher wahrnehmbaren Zurückhaltung<br />

von Herrn Behrend. „Ich werde mit der Rolle nicht so recht warm“, begründet<br />

er des öfteren seinen Unwillen, die Situation als Spieler weiter mitzutragen. Auf<br />

den Seminarleiter macht Herr Behrend in der Rolle des jungen Mannes allerdings<br />

einen anderen Eindruck, als den, den er selbst zum Ausdruck bringt. Zur<br />

Verdeutlichung des zentralen Symbols der Erzählung, der Küchenuhr, steht ein<br />

alter Schuhkarton zur Verfügung, auf den eine Uhr gemalt ist, deren Zeiger auf<br />

halb drei stehen, ganz wie es die Geschichte vorgibt. Diese „Küchenuhr“ hat<br />

Herr Behrend im Arm, hält sie wie etwas Kostbares, wie eine Puppe oder einen<br />

Säugling, der linke Arm und die linke Hand dienen als Auflage für die „Küchenuhr“,<br />

die rechte Hand streichelt <strong>das</strong> Objekt, <strong>das</strong> Herr Behrend mit sich trägt.<br />

Dieses Bild kontrastiert deutlich mit dem, was Herr Behrend sagt, denn die<br />

„Küchenuhr“ erfährt von ihm genau die Zuwendung und bekommt die Bedeutung<br />

beigemessen, die auch die Figur in Borcherts Geschichte ‚ihrer’ Küchenuhr<br />

zukommen lässt. Der Seminarleiter ist mit dem Ergebnis zunächst zufrieden,<br />

betrachtet es als angemessene szenisch-interpretative Deutung der Figurenkonstellation<br />

der Geschichte. Nach einer kurzen Befragung der Spieler in ihrer<br />

Rolle in den jeweiligen Bildern, folgt eine erste Reflexion des bisherigen Vorgehens.<br />

Der bereits im Spiel spürbare Unmut bei den Studenten5 bricht sich in<br />

Kritik am methodischen Vorgehen Bahn. Eine Methodendiskussion droht die<br />

Möglichkeit von Spiel<strong>erfahrung</strong>en zu verdrängen. Die Spieler hätten vorab mehr<br />

entlastet werden müssen. Sie hätten sich nicht klar genug von den Rollen distanzieren<br />

können. „Aha“, denkt sich der Seminarleiter, „der szenische Impuls des<br />

Texts wirkt also sehr wohl“, geht dann aber insofern auf die Einwände ein, als<br />

er vorschlägt, eine Phase der Beschäftigung mit dem Text und mit den Rollen<br />

einer weiteren Arbeit an den Standbildern, ihrer Erweiterung in eine szenisch-<br />

5 In dieser Arbeit wird zur allgemeinen Bezeichnung von Personen <strong>das</strong> generische Maskulinum verwendet.<br />

Sollte <strong>das</strong> spezifische Geschlecht einer Person in der Darstellung von Bedeutung sein, wird dies<br />

gesondert gekennzeichnet.

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