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das gewebe literarischer erfahrung - Dr. Jörg-Dietrich Steitz ...

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2 Systematische Grundlegungen: Begriffe - Methoden - Daten 39<br />

Situation und die Erscheinung der Beteiligten zu beschreiben, kam mit ihrem<br />

Einwand nicht durch. Nach einer Phase des Diskutierens am Text, des Sammelns<br />

von Eindrücken und des Versuchs, die verschiedenen Eindrücke in einen<br />

Zusammenhang zu bringen, wurde die Diskussion unterbrochen und die Dynamik<br />

der Gruppe während der Diskussion in den Blick genommen. Nach einem<br />

Moment des Nachdenkens beschrieben die Seminarteilnehmer, <strong>das</strong>s und<br />

wie sich eine aggressive Stimmung aufgebaut hat. „Woher kommt diese Stimmung,<br />

was hat sie mit dem Text zu tun?“ lenkte der Seminarleiter die Aufmerksamkeit<br />

auf den Zusammenhang von Text und Diskussionssituation. Frau Gabriel<br />

wies auf einen Textabschnitt hin, in dem es heißt: „Diese Tendenz, sich bei<br />

der Schilderung ihrer Lebensgeschichte, aber auch ihres Alltags oder ihrer Zukunft<br />

und ihrer Berufsvorstellungen in stark forcierter Weise als exklusiv und<br />

grandios darzustellen, kann Dolli leicht den Vorwurf des Imponiergehabes und<br />

der Überkompensation eintragen (wie mehrfach aggressiv getönte Reaktionen<br />

auf Person und Interviewinhalt bei der Befragung und im Auswertungsprozeß<br />

zeigen)“ (181). Auf der Suche nach weiteren Textbelegen, die eine aggressive<br />

Tönung besitzen, stieß die Seminargruppe auf eine Strategie des Texts bzw. der<br />

Autoren, in Parenthesen Deutungen und Wertungen zu Dolli und ihrem Verhalten<br />

zu entfalten.<br />

Die Gruppe rekonstruierte nun den Tenor dieser parenthetischen Deutungen<br />

und stellte fest, <strong>das</strong>s sie einen Deutungsansatz für die Textirritationen und Eindrücke<br />

liefern: Dolli wird an mehreren Stellen mit dem adoleszenten Wunsch<br />

geschildert, sich älter zu machen, sich als den Erwachsenen gleich darzustellen.<br />

Die Deutungen der Autoren wurden als Versuch verstanden, Dolli in ihre adoleszente,<br />

nicht-erwachsene Position ‚zurückzustoßen’. Vor dem Hintergrund<br />

dieser These zeigte sich, <strong>das</strong>s die aggressive Stimmung bei den Seminarteilnehmerinnen<br />

einer Identifikation mit Dolli geschuldet war, die letztlich die adoleszente<br />

Rivalität zwischen Jugendlicher und Erwachsenen zum Thema hatte. Dieser<br />

Aspekt des Interaktionsgefüges wurde, so der Eindruck im Seminar, von den<br />

Autoren der Studie ‚übersehen’, sie drückten ihn aber indirekt in den Parenthesen<br />

aus, indem sie Dolli aus der Position der beurteilenden Erwachsenen behandelten.<br />

Da diese Konfliktstruktur letztlich von Dolli erzeugt worden war,<br />

hätte sie als ein interaktionelles Element ihres Lesens verstanden werden können.<br />

Der textliche Umgang mit diesem Erkenntnis-Datum in Parenthesen verhinderte<br />

aber, <strong>das</strong>s es der Deutung insgesamt zugeführt wurde.<br />

Die emotionalen Reaktionen der Studentinnen auf Dolli enthielten noch eine<br />

andere Facette, die möglicherweise Dollis Lesen vertiefend erklären könnte: einen<br />

ausgesprochen intensiven Wunsch nach Verstanden-Werden-Wollen, nach<br />

Nähe, der sich allerdings in aggressiver Aufdringlichkeit äußert. Dollis Lesen<br />

wäre demnach nicht nur Flucht, sondern Nähe-Wunsch. An dieser Stelle musste<br />

<strong>das</strong> Seminar allerdings seine weiteren Verstehensversuche einstellen, weil die<br />

Transkripte der Interviews mit Dolli selbst nicht zur Verfügung standen.<br />

Das Thema „Aggression“ als einem bedeutenden Thema des Fallbeispiels und<br />

des auswertenden Texts wurde dem Seminar im Sommersemester 2000 zudem<br />

dadurch deutlich, <strong>das</strong>s sich die Fassungen Messner/Rosebrock (1987) und<br />

Lahme-Gronostaj/Messner/Rosebrock (1997) an einer zentralen Stelle der

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