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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 97<br />

22. DIE ZWEITE REISE IM VIEHWAGGON<br />

In diesem seelischen Marasmus erwischte mich am Abend des 23.<br />

Dezembers 1942 (also vor Weihnachten) der Aufbruch aus Tambow Richtung<br />

Endlager, das Ziel unserer Pilgerungen durch das weiße Reich des russischen<br />

Winters. Es war bereits Nacht geworden, als wir auf dem öden Bahnsteig des<br />

Bahnhofs, nachdem wir gezählt und wieder gezählt worden waren, endlich den<br />

Befehl bekamen, in die Waggons zu steigen. Aber erst einmal drin, war es für die<br />

zuerst Eingestiegenen unmöglich, in all der Finsternis auf die Pritschen zu<br />

kriechen, um den Nachfolgenden Platz zu machen. So kam es, dass ein g<strong>ro</strong>ßer<br />

Teil von uns in der Mitte des Waggons blockiert blieb, der, um verschlossen zu<br />

werden, der Flüche und nachhelfenden Gewehrkolben der Wachsoldaten<br />

brauchte, davon einer – es konnte ja gar nicht anders sein – auch mir zuteil<br />

wurde. Nachdem die Tür zugezogen worden war und die vier Riegel zufielen,<br />

fanden wir uns alle wie in einer Sardinendose zusammengedrängt wieder, dass<br />

wir nicht einmal eine Hand bewegen konnten. Inzwischen war der Zug<br />

angefahren und eilte durch die Nacht. Fuhr er über Weichen, wiegte er sich hin<br />

und her, als wäre er eines Leibes. Es war, als hätte man uns alle in eine<br />

Zwangsjacke gesteckt und aneinander geklebt. Rufe: „Kriecht auf die Pritschen,<br />

wir halten es nicht mehr aus!“, Schmerzgestöhn, eingedrückte Brust, der<br />

Schrecken, nicht mehr atmen zu können, und über alles ergoss sich jene<br />

Finsternis mit ihren Ängsten der Kindheit wie ein totes Wasser. „Das Dunkel und<br />

das Zähneknirschen“, das ist das Bild (aus den Evangelien) der Hölle! Ich kann<br />

ohne jeden Zweifel behaupten, dass ich in jener Nacht, die längste des Jahres<br />

und meines Lebens zugleich, die Erfahrung der Hölle als Ort des „äußersten<br />

Dunkels“ machte. (Der gesamte Kommunismus war übrigens eine „Offenbarung“,<br />

eine „Phanie“ der Hölle, die für all jene, die sich nicht von Satans Fangarmen<br />

umranken gelassen haben, in ihrem Wesen und ihrer apokalyptischen<br />

Ausrichtung zu erkennen war.)<br />

Auch nachdem die Pritschen besetzt worden waren, blieb noch eine<br />

kompakte Menschengruppe – darunter auch ich – in der Mitte des Waggons<br />

stehen, die wir die ganze Nacht über kein Auge zutaten. Nach dieser qualvollen<br />

Nacht ohne Schlaf – der längsten des Jahres – enthüllte das trübe Licht des<br />

Morgengrauens unsere bleichen und zerknitterten Gesichter. Wir sahen einander<br />

an und hätten uns fast nicht wieder erkannt. Da hielt der Zug auf einem in der<br />

Unendlichkeit der Steppe verlorenen kleinen Bahnhof an und im gleichen<br />

Augenblick war aus dem Waggon hinter uns wie ein Murmeln ein Weihnachtslied<br />

zu hören, das aus einer lichten und entfernten Kindheit aufzusteigen schien: „Oh,<br />

welch wunderbare Kunde“ 52 ! Wir lauschten voller Staunen; dann sangen wir es<br />

mit schwachen und zitternden Stimmen mit, als ein Geschenk für Gottes Kindlein<br />

am Ende einer Nacht, die wir im Inferno, in Finsternis und mit Zähneknirschen<br />

verbracht hatten.<br />

52 Im Orig.: „O ce veste minunat!“, eines der bekanntesten rumänischen Weihnachtslieder.

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