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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 338<br />

möge Deine Heilige Geburt uns Erlösung bringen und uns aus dem Dunkel und<br />

dem Schatten des Todes befreien!“<br />

*<br />

Am Tag darauf stellten wir uns für die Zählung entlang des Korridors auf,<br />

und wir Hungerstreikenden warteten auf den ersten Akt der Aktion: die Erklärung<br />

des Hungerstreiks. Dieser sollte stattfinden, als der Offizier vom Dienst erschien,<br />

der Major, eine dickleibige Erscheinung mit aufgedunsenem Gesicht, in deren<br />

Zügen sich kontrapunktisch der grundlegende Primitivismus des Analphabeten<br />

mit den Verwüstungen des Alkoholismus eingegraben hatten, nichtsdestot<strong>ro</strong>tz<br />

st<strong>ro</strong>tzte die Brust von zellophangeschützten Orden. In seiner Wodkaeuphorie<br />

und Gedankenlosigkeit mag der Major an der F<strong>ro</strong>nt g<strong>ro</strong>ßartige Heldentaten<br />

vollbracht haben, nun aber war er wohl wegen wer weiß was für Dummheiten in<br />

dieser sumpfigen Ödnis kaltgestellt worden. Es folgten ihm der Starsch des<br />

Lagers, ein ungarischer Oberst mit Grafenbärtchen, und dessen Adjutant, ein<br />

junger und gediegener Offizier – es hieß, er sei ein Graf, der das Evidenzheft<br />

hielt. Die Zählung begann. Der erste Mann am rechten Flügel überreichte dem<br />

Major das Kärtchen.<br />

„Schto takoi?“ (Was ist das?), fragte dieser verwundert.<br />

„Golodowka“ (Hungerstreik), war die Antwort. Seine Verwunderung<br />

wuchs Schritt um Schritt mit jedem klar und deutlich ausgesp<strong>ro</strong>chenen<br />

„Golodowka“ und dem dazugehörigen Kärtchen, das er bekam. Der ungarische<br />

Oberst kratzte sich, selber auch überrascht, im Grafenbärtchen. Nur der Adjutant<br />

beglückwünschte uns aus den Augen und gab uns diskret zu verstehen, dass er<br />

uns die Daumen drücken werde. Aber auch wir wurden überrascht: Der<br />

kleinwüchsige Tena, der mit der Kugel in der Lunge, streckte auch das Kärtchen<br />

aus, und auf unsere erstaunten Blicke hin antwortete er wie folgt: „Ich konnte<br />

nicht anders; ich gehe mit euch mit bis ans Ende, komme, was wolle!“ Der Major<br />

war noch nicht richtig draußen mit dem Arm voller Hungerstreikerklärungen, da<br />

tauchten auch schon die deutschen Köche mit dem Tee ohne Zucker und dem<br />

Tablett mit den winzigen B<strong>ro</strong>tportionen auf. Darauf achtend, so schnell wie nur<br />

irgend möglich aus unserer unheimlichen G<strong>ro</strong>tte wieder raus zu kommen,<br />

nachdem die nicht streikende Hälfte ihre Ration entgegengenommen hatte,<br />

fragten sie uns, was denn los sei mit uns, warum wir nicht unsere Portionen<br />

nähmen. Als Antwort schrieen wir ihnen im Chor zu: Hungerstreik 148 . Die<br />

Deutschen machten g<strong>ro</strong>ße Augen, berieten sich, dann ließen sie das Essen an<br />

der Tür und verließen den Raum, nicht ohne uns vorher ihre Sympathie zu<br />

zeigen und uns diskret Erfolg zu wünschen. Von jenem Moment an wussten wir,<br />

dass das ganze Lager von unserem Hungerstreik erfahren würde. Doch während<br />

die Köche hinausgingen, erschien von Schubert, der, als er das Wort<br />

Hungerstreik hörte, sofort bleich wurde und schweigend wieder ging. Der Arme<br />

fürchtete wohl zu recht, dass ihm seine Arbeitgeber fehlende Wachsamkeit und<br />

den Verlust der Kont<strong>ro</strong>lle über uns vorwerfen würden.<br />

Den ersten Tag – der besonders schwer ist – verbrachten wir ausgestreckt<br />

auf unseren Pritschen bei banalen Gesprächen, in denen wir in<br />

stillschweigendem Übereinkommen jeglicher Diskussion zum Thema<br />

148 Deutsch im Original.

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