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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 247<br />

Filigran aufzeigte, woher kam es denn? Die Erklärung war selbstverständlich<br />

physikalischer Natur, ein meteo<strong>ro</strong>logisches Phänomen, die Bedeutung, das<br />

Emblem, die Botschaft dieses Lichtes jedoch empfand ich als etwas aus einer<br />

anderen Welt.<br />

Tatsächlich hatte sich zwischen das goldene Licht der Sonne, welches in<br />

jenem Moment wohl das Kloster erfasste, und mein Auge eine leichte<br />

Nebelschwade geschoben, welche das weltliche Sonnengold in das jenseitige<br />

Silber des „Himmelreiches“ verwandelt hatte.<br />

Was sich jetzt meinen Augen bot war die Ikone des himmlischen<br />

Jerusalems, die im Nebel schwebte, ohne noch die Erde zu berühren. Wo war<br />

denn nun Oranki, der Höllenmund, aus dem alle Macht des Dunkels und dessen<br />

apokalyptischen Elemente (die Kälte, der Hunger, der Ter<strong>ro</strong>r, die Zwangsarbeit,<br />

die Seuche, die Lüge und schließlich der Verrat) über uns geströmt waren? Wo<br />

war denn Oranki verschwunden, der Satanskessel, in welchem wir in all den<br />

Jahren bei kleinem Feuer im Saft der bösen Leidenschaften geschmort hatten,<br />

bis der G<strong>ro</strong>ße Höllenfürst mit seinem Sondersieb aus unseren Reihen den<br />

Abschaum von Schurken und Galgenvögeln auswählen sollte, mit denen er seine<br />

Kohorten von toten Seelen bildete, die dazu bestimmt waren, unser Land zu<br />

satanisieren?<br />

Oranki, diese Kloake des Hor<strong>ro</strong>rs und der Schandtaten, mit seinen<br />

Verhörräumen, seinen Karzern des weißen Todes, mit seinem<br />

Leichenschauhaus voll mit nackten, gef<strong>ro</strong>renen und holzähnlich gestapelten<br />

Kadavern, mit seinem entsetzlichen Geruch nach aufgetauter Latrine, in der es<br />

von Würmern wimmelte, so wie es auch unter uns von Denunzianten wimmelte,<br />

dieses Oranki war weit… weit zurückgeblieben, und nun schwebte vor meinen<br />

Augen ein etwas von der Erde losgelöstes Oranki, ein Traumgebilde gleich einer<br />

Braut Zions, geschmückt mit den Silberfäden eines jenseitigen Lichtes. Sollte<br />

denn nicht ebenso auch der Berg Tabor ausgesehen haben, als er im Lichte<br />

erstrahlte, das den Erlöser einhüllte, als dieser am Tag der Verklärung zum<br />

ersten Mal den drei Jüngern Seine Göttlichkeit offenbarte? Und was für eine<br />

Fügung, dass sich auch mir am Feiertag der „Verwandlung“ ein verwandeltes<br />

Oranki zeigte!<br />

Meine Vision hielt nicht mehr als 15-20 Sekunden an, wonach sie sich<br />

nach und nach im Urnebel auflöste, der sich eingestellt hatte, und in meiner<br />

Seele eine Ruhe einkehren ließ, die nicht mehr von dieser Welt war. „No,<br />

dawai!“ erklang brutal, als sollte ich aus dem Träumen gerissen werden, der<br />

Aufbruchbefehl des Tschassowojs an der Spitze der Kolonne. Alle bückten wir<br />

uns, um unsere elenden Bündel und Habseligkeiten aufzuheben. Wir stellten uns<br />

in Reihen auf und setzten unsere beschwerliche Wanderung auf dem staubigen<br />

Landweg hinkend fort, und ich verschloss diese Vision wie ein Lesezeichen in<br />

meiner Seele, zusammen mit der Frage: Welche Botschaft aus dem Jenseits<br />

versucht sie mir denn zu bringen?

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