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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 145<br />

Dieser Blumenstrauß war für mich nicht bloß eine Fibel der italienischen<br />

Sprache, sondern auch eine Denkanregung und eine stete Herausforderung,<br />

daraus literarisch oder gar in Versen zu übersetzen, was mich ja – abgesehen<br />

von der Mittelmäßigkeit der Resultate – immerhin aus der Apathie riss und alle<br />

Kräfte meines Intellekts aktivierte. Von jenem Augenblick an hörte die Zeit auf,<br />

bloß eine Last zu sein, und der Tag begann, mir nicht mehr auszureichen.<br />

Die wunderbarsten Tagesmomente jedoch waren jene zwischen<br />

Abendessen und Zapfenstreich, wenn wir uns – sowohl Rumänen, als auch<br />

Italiener – um einen Ofen versammelten und zwei- oder dreistimmig<br />

neapolitanische Konazonetten sangen. Partono i bastimenti, Quando spunta la<br />

luna a Marechiare!, ’Vicino mare, Vorrei morire und Ideale de Tosti, dazu Chöre<br />

aus Opern (etwa aus Verdis Nabucco). Im Chor gesungen, erhielten diese Lieder<br />

unerhörte, geradezu liturgische Valenzen. Der Anreger dieser Chorgesänge war<br />

Cezare Grazzia, ein junger Lehrer aus der Campania, der seinen Namen nicht<br />

nur dank seiner musikalischen Begabung, sondern auch infolge seines<br />

persönlichen Charmes voll verdiente. Dieser so bescheidene wie allen<br />

gegenüber diskret-freundliche junge Mann zeichnete sich durch eine fast<br />

mönchische Reinheit aus, zu der inbrünstiger Glauben und ein fast ekstatischer<br />

Madonnenkult hinzukamen. Und ich erinnere mich noch an viele andere, die ich<br />

sei es hier, sei es in Oranki kennen lernte, wie etwa an Giorgio Bataglia, ein<br />

Italienischlehrer an einem Gymnasium in Neapel, von dem ich ein paar<br />

gewichtige Grammatiklektionen erhielt, dann an den kleingewachsener<br />

Spaßvogel Boni, der jeden Morgen, wenn er mit dem Suppenteller an Stalins<br />

Porträt vorbeikam, eine Kniebeuge davor machte und „grazie, Papa Giuseppe,<br />

per la minestra“ (danke, Papa Josef, für die Suppe!) sagte. Kennen lernte ich<br />

noch Exposito, ein hochwüchsiger, schöner Venezianer stolz wie ein Doge, den<br />

Universitätsassistenten (Jura) Sanduli – ein gelehrter Skeptiker, Ernesto<br />

Giaccalone, ein Witzbold englischer Prägung, dann Zache<strong>ro</strong>ni und das<br />

Riesenbaby Giunchi aus der Romagna, unschuldig wie eine Jungfrau und kräftig<br />

wie Samson, den brünetten, spindeldürren Bianchi, der jedes Mal, wenn über<br />

Italien und Mussolini geredet wurde, Feuer fing, sowie Corrado, ein Mann mit<br />

linken Überzeugungen, der Mussolini als un piccolo politicante di villaggio<br />

(kleiner Dorfpolitiker) bezeichnete, und so manchen anderen, dessen Figur für<br />

mich bis heute lebendig ist, aber namenlos blieb. Wie im Falle der rumänischen<br />

Gemeinschaft gelang es dem Kommissariat, auch unter ihnen eine kleine<br />

Antifaschistengruppe zu gründen, der allerdings keiner der oben erwähnten<br />

Italiener angehörte. Diese Gruppe wurde mit Misstrauen, wenn nicht gar mit<br />

Feindseligkeit betrachtet. Selbst der linke Corrado, der durch und durch<br />

Antifaschist war, hatte für sie aus seiner deftigen Sprache nur Ausdrücke wie<br />

villiachi e figli di putana (Schurken und Hundesöhne). In der „antifaschistischen“<br />

Plattform derselben sah er nichts als ein g<strong>ro</strong>teskes Pappwerk, dahinter sich die<br />

ekelhafte Fresse des stalinistischen Bolschewismus verbarg, der, ganz gleich,<br />

wie der Krieg ausgehe, in Italien keine Chance habe. Für sein Land sah er in<br />

einer Art demokratischem Sozialismus die Lösung. „Euch aber wird man, im<br />

Falle einer Niederlage, dieses monströse Pappwerk – all eurer Gegenwehr zum<br />

T<strong>ro</strong>tz – einfach aufzwingen.“ Er hatte ein unkendes Mundwerk, denn<br />

unglücklicherweise sollte es genau so kommen.

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