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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 375<br />

100. Der Weg durch die Johannisnacht<br />

Nach der ersten Wegbiegung, die uns aus dem Blickfeld der Leitung<br />

dieses unheimlichen Ortes rausholte, hielt der Wegführerkaporal die Kolonne an<br />

und bat, sich um ihn herum zu versammeln. Er unterstrich nochmals, dass er<br />

ausschließlich unser Reiseleiter sei, mit dem Auftrag, uns auf dem Weg in die<br />

Heimat bis nach Morschansk zu führen, ein g<strong>ro</strong>ßes Lager im Westen der Union,<br />

ein Sborni punkt (Sammelpunkt), etwa 7-8 Tage Zugfahrt entfernt. Dort würden<br />

die Heimkehrertransporte zusammengestellt, und von dort sollten wir nach einem<br />

Wäsche- und Kleidungswechsel – diese waren allerdings am letzten Limit – in<br />

ein, zwei Tagen in eine Zuggarnitur Richtung Rumänien einsteigen.<br />

Nun sollten wir vom Bahnhof Selenodol mit einem Personenzug bis Kasan<br />

und von dort mit einem anderen bis Morschansk fahren. Da der Zug aber um<br />

sechs Uhr morgens ankam, müssten wir uns beeilen, um ihn zu erwischen.<br />

Deswegen habe er überlegt, eine Abkürzung einzuschlagen, was den 24<br />

Kilometer langen Landstraßenweg um 5-6 km verkürze. Dafür aber müssten wir<br />

zügig und eng hinter ihm voranschreiten und keinen Schritt vom Weg abweichen<br />

– schließlich waren wir mitten in den Sümpfen.<br />

Wir waren alle damit einverstanden. Es war 11 Uhr abends vorbei, als wir<br />

losgingen, aber das Licht war wie in der Dämmerung. Man konnte bis weit hin<br />

sehen, ja sogar lesen hätte man können. Der Horizont im Norden war <strong>ro</strong>t wie vor<br />

Sonnenaufgang, denn jetzt, um die Sommersonnenwende und an dem<br />

Breitengrad, an dem wir uns befanden, ging die Sonne sehr spät unter und sehr<br />

früh auf, und man hat weiße Nächte. Wir waren aber nicht hundert Meter<br />

gegangen, als einer vom Anfang der Kolonne uns darauf aufmerksam machte,<br />

dass wir am Lagerfriedhof vorbeikamen. Wir erinnerten uns daran, dass wir an<br />

dieser Sklavenstätte zwei Weg- und Leidensgenossen zurückließen, und da wir<br />

der Meinung waren, wir könnten nicht an ihnen vorbeigehen, ohne uns von ihnen<br />

zu verabschieden, beschlossen wir alle, einzutreten. Wir gingen an den noch<br />

nicht eingesunkenen Gräbern der beiden ungarischen Offiziere vorbei, die vom<br />

Gardechef niederträchtig erschossen worden waren, weil sie sich geweigert<br />

hatten, die Latrine zu entleeren, und gelangten schließlich zu jenen unserer<br />

beiden Toten, Oberst Cioculescu und Major Gheorghe Popescu, deren Leben<br />

Ziganow verkürzt hatte, indem er sie, alt und krank, wie sie waren, ohne jede<br />

Rechtfertigung oder Grund in jenen schrecklichen Exterminierungsisolator<br />

gesteckt hatte. Wir sprachen ein Gebet und sangen ein, zwei St<strong>ro</strong>phen aus der<br />

erschütternden Gefangenenballade der beiden Stefans, Cioponea und Tumurug,<br />

die später selber am Kanal 165 umgebracht werden sollten:<br />

„Kreuzlose Gräber rufen uns nach:<br />

Schreite, Lied, voran!<br />

Wir bleiben… Du halt wach<br />

165 Donau-Schwarzmeer-Kanal.

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