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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 147<br />

35. EIN LEBEN FÜR EINEN STUMMEL<br />

Zwei Momente prägten meine Erinnerung an Skit, das kleinere<br />

Klosterlager.<br />

An einem f<strong>ro</strong>stigen Morgen ging ich nach der Zählung mit zwei, drei Kameraden<br />

auf der rings ums Lager führenden Allee spazieren, welche parallel zu der durch<br />

zwei Reihen Stacheldraht gekennzeichneten verbotenen Zone verlief. Als wir<br />

eine der hinteren Ecken erreichten, wo auf dem Wachturm ein schlitzäugiger<br />

Tschassowoj hingabevoll an seiner Machorka sog, wurden wir auf einen<br />

rumänischen Soldaten aufmerksam, der sehr nahe am Stacheldraht versteinert<br />

vor dem über ihm rauchenden Usbeken saß, als habe er die Gottheit eines<br />

lamaistischen Altars vor sich. Seine Lippen murmelten unentwegt eine heilige<br />

Litanei, daraus nur soviel zu verstehen war: „Tawarischi Tschassowoj, dai minea<br />

kischtok!“ (Genosse Tschassowoj, gib auch mir einen Stummel).<br />

„He, Kamerad, bleib nicht so nahe am Stacheldraht, sonst erschießt der<br />

von oben dich noch!“, riefen wir ihm zu. Aber welcher Aufruf kann denn<br />

jemanden aus einer mystischen Trance reißen? Ohne unsere Gegenwart auch<br />

nur zu bemerken, verfolgte der arme Mann voller Ekstase die<br />

Machorkarauchwolke, welche sein Idol auf dem Beobachtungsturm einhüllte, und<br />

murmelte das immergleiche Gebet „Tawarischi Tschassowoj…“. Wir setzten<br />

unseren Spaziergang forschen Schritts fort, um den F<strong>ro</strong>st abzuschütteln, als wir<br />

plötzlich einen Schuss hörten. Da wir ahnten, was geschehen war, liefen wir<br />

zurück. Vor dem Wachturm hatten sich Leute versammelt. Zwischen den beiden<br />

Stacheldrahtreihen lag in Schnee der Verbotszone der noch rauchende<br />

Köderstummel. Zu ihm hin, der ausgestreckte Arm mit gespreizten Fingern, fast<br />

das höchste Ziel berührend. Der Kopf hing über den Stacheldraht, und Blut<br />

t<strong>ro</strong>pfte von ihm in das Weiß des Schnees… Das unschuldige Blut Abels, der<br />

gegen dich, Kain, zum Himmel schreit! Kain mit Millionen von Häuptern, am<br />

Fließband gestanzte Häupter des neuen Menschen aus den Werkshallen des<br />

Kommunismus. Ein Leben für einen Stummel. Daraus er nicht einmal einen Zug<br />

getan hatte. Ein Gemurmel der Empörung ging durch die inzwischen größer<br />

gewordene Menschenmenge. „Verbrecher, Mörder, Bestie“ war zu hören. Der<br />

neue Mensch auf dem Wachturm jedoch lachte, lachte genüsslich.

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