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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 206<br />

54. DER KOMMISSAR UND DIE MARSEILLAISE<br />

Aber die explosivste Episode aus der Geschichte der Lagerschauspiele<br />

bot Major Nicolae R\doi, als er das von Robert Schumann vertonte Lied „Die<br />

beiden Grenadiere“ von Heinrich Heine interpretierte.<br />

Major R\doi, mit der Medaille eines Generalstabsoffiziers auf der Brust<br />

(mit ’nem „Kuckuck“, wie wir ihn aufzogen), war ein hoch gewachsener,<br />

stattlicher Mann mit einer auße<strong>ro</strong>rdentlichen Verdi-Baritonstimme.<br />

Wäre er nicht das Opfer des Vorurteils einer Kaste gegenüber gewesen<br />

(er gehörte einer Familie von G<strong>ro</strong>ßgrundbesitzern aus Teleorman 104 an, die auch<br />

mit der Familie des Philosophen Noica 105 verwandt war), hätte er das<br />

Konservatorium – und nicht die Offiziersschule – besucht und wäre wohl ein<br />

Bariton von internationalem Rang geworden. (Und dies habe nicht nur ich<br />

behauptet, sondern auch Major Onofrei, der Bruder des g<strong>ro</strong>ßen Tenors Onofrei,<br />

selber auch Musiker, der mit uns im Lager war, und dieser Meinung waren auch<br />

andere höhere Offiziere mit einigem musikalischen Verständnis.) In Begleitung<br />

eines Pianinos begann er mit tiefer, kräftiger und wohl ausgewogener Stimme<br />

und außergewöhnlich klarer Diktion den bekannten Anfang der Ballade zu<br />

singen: „Nach Frankreich zogen zwei Grenadier' / Die waren in Rußland<br />

gefangen.“ (Als das Syntagma „in Russland gefangen“ zu hören war, hielt der<br />

gesamte Saal seinen Atem an.) Die beiden erreichen das „deutsche Quartier“,<br />

wo sie die tragische Nachricht erhalten, „daß Frankreich verloren gegangen./<br />

Besiegt und geschlagen das tapfere Heer, / Und der Kaiser, der Kaiser<br />

gefangen.“ Es folgt die Bitte des Grenadiers mit der alten Wunde an seinen<br />

Kameraden: „Gewähr' mir Bruder eine Bitt';/ Wenn ich jetzt sterben werde, / So<br />

nimm meine Leiche nach Frankreich mit, / Begrab' mich in Frankreichs Erde. //<br />

Das Ehrenkreuz am <strong>ro</strong>ten Band / Sollst du aufs Herz mir legen; / Die Flinte gib<br />

mir in die Hand / Und gürt' mir um den Degen. / So will ich liegen und horchen<br />

still', / Wie eine Schildwach' im Grabe, / Bis einst ich höre Kanonengebrüll / Und<br />

wiehernder Rosse Getrabe.“<br />

In jenem Moment schwante mir die Katast<strong>ro</strong>phe, welche eintreten sollte.<br />

Ich kannte Schumanns Grenadiere und wusste, dass die Melodie zum<br />

Schluss hin in eine apotheotische Marseillaise übergeht. Ich wusste aus eigener<br />

Erfahrung, welch explosive Ladung diese revolutionären Akkorde besaßen, die<br />

wir, die Generation nach dem ersten Weltkrieg, mit Schauder bereits in unserer<br />

Kindheit bei verschiedenen Festlichkeiten gehört hatten.<br />

Tatsächlich fühlte ich mit den ersten Akkorden der Marseillaise, wie der<br />

gleiche Schauder mich bis in mein Innerstes aufwühlte und wie ein Beben des<br />

Staunens den Saal erfasste. Es war jener frenetische und unwiderstehliche<br />

Freiheitselan, der die Massen zum Kampfe auf Leben und Tod erhebt.<br />

104 Landkreis in Südrumänien.<br />

105 Constantin Noica (1909-1987) war einer der bedeutendsten rumänischen Philosophen des 20.<br />

Jahrhunderts.

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