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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 492<br />

Neigung fürs Zeichnen, das Aquarell, für Tempera, und dieser war ich auch<br />

nachgegangen. Von allen Genres aber hatte ich eine Vorliebe für das Porträt,<br />

dies war meine g<strong>ro</strong>ße Versuchung. Letztlich musste ich diese Versuchung aber<br />

für das opfern, was ich – zu Recht oder auch nicht – für meine Berufung hielt, für<br />

die Philologie und die Philosophie.<br />

T<strong>ro</strong>tzdem aber hatte mich die Nostalgie nach den bildenden Künsten nicht<br />

verlassen und sich in die Leidenschaft verwandelt, Museen, Ausstellungen,<br />

Kunstkollektionen usw. zu besuchen und mit g<strong>ro</strong>ßem Interesse Bücher und<br />

anderes über Malerei und Maler zu lesen.<br />

Ohne auch nur jemanden um Erlaubnis zu bitten, installierten wir uns auf<br />

der Veranda und im anschließenden Raum und richteten uns mit allerlei<br />

Imp<strong>ro</strong>visationen ein Atelier ein. Aus dem Material, über das wir verfügten, malten<br />

wir umgehend ein paar Bildchen von, zugegeben, recht zweifelhaftem<br />

Geschmack, die wir aber gerade deswegen rasch durch unsere Soldaten, die in<br />

die Stadt zur Arbeit gebracht wurden, selbstverständlich gegen eine gebührende<br />

P<strong>ro</strong>vision für sie, an den Mann brachten. Durch die Arbeiten, denen sie<br />

nachgingen, kamen sie mit der Zivilbevölkerung zusammen, und in ihren<br />

besseren Schichten der „Ehemaligen” befanden sich viele, die nach<br />

Kunstobjekten hungerten, die wenigstens nicht der Sphäre des sozialistischen<br />

Realismus entstammten. Und so erhielten wir über die Soldaten verschiedene<br />

Aufträge für farbige und vor allem nichtfarbige Karten nach berühmten Gemälden<br />

g<strong>ro</strong>ßer russischer Meister des 19. und vom Anfang des 20. Jahrhunderts, nach<br />

Repin, Gerasimow und anderen, nach deren Werken man möglichst getreue<br />

Kopien von uns wollte. Wir teilten die Aufträge untereinander je nach Genre und<br />

Vorliebe auf. Oleg wählte sich Szenengemälde mit Personen und Anekdotik aus,<br />

Gri[a und der Hauptmann Landschaften und Stillleben und ich Porträts (meine<br />

Schwäche).<br />

Dafür erhielt ich von draußen verblichene, entfärbte Fotos, die zum Teil<br />

älter als 50 Jahre waren und mitunter gar verstorbene Personen darstellten,<br />

Vorlagen, die ich auf die Dimensionen eines Wandpoträts zu vergrößern hatte.<br />

Von all diesen Aufträgen prägte einer besonders meine Erinnerung. Es handelte<br />

sich um eine g<strong>ro</strong>ße Sängerin an der Oper von Odessa, die inzwischen eine<br />

verarmte alte Frau war. Das Foto war ungefähr aus dem Jahre 1906, La belle<br />

époque. Es stellte eine blühend-schöne junge Frau dar. Eine statuenhafte Linie<br />

des nackten Halses, ein eng geschnürtes Korsett, das kaum die reichen Brüste<br />

zurückzuhalten vermochte, strahlende Augen, in denen sich scheinbar das<br />

Rampenlicht widerspiegelte, und lebenshungrige Lippen. Das silberne Stirnband<br />

mit Reiherfeder krönte das Outfit der gesamten Figur, ein Gemisch aus<br />

Sinnlichkeit und leicht herausforderndem Stolz.<br />

Die Alte sei, wie mir der vermittelnde Soldat versicherte, äußerst gerührt<br />

gewesen von dem Porträt, dass ich malte, in dem sie der Schönheit ihrer Jugend<br />

wieder begegnete.<br />

Außer den übermittelten Dankesworten verschaffte sie mir auch ein paar<br />

weitere Aufträge aus ihrem Kreis von „Ehemaligen“, glückliche Überlebende der<br />

geschichtlichen Katast<strong>ro</strong>phe, denen sie das Porträt gezeigt hatte. Allerdings<br />

waren auch unsere Forderungen viel niedriger als jene auf dem Basar, gaben wir<br />

uns doch zufrieden damit, Geld zur Beschaffung von Materialien, Farben,

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