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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 34<br />

4. CHORALKONZERT IN DER STEPPE<br />

Ich war drauf und dran, den Abmarschbefehl zu erteilen, als uns ein<br />

seltsames Phänomen überraschte: Ein leichter Wind hob für ein paar Sekunden<br />

die Nebeldecke hoch und bot unseren verwunderten Blicken Fragmente einer<br />

Steppe dar, die in ein unglaubliches goldenes Herbstlicht getaucht waren. Dann<br />

verdeckte der Nebel die Aussicht wieder. Wir saßen so da, unbeweglich und<br />

erstaunt, warteten auf weitere Enthüllungen des Windes, als plötzlich von links<br />

her, wie aus der Tiefe der Steppe heraus, die kräftigen und wilden Akkorde eines<br />

Marsches aus hunderten oder tausenden von Kehlen zu hören waren, die<br />

unaufhörlich anschwellend auf uns zu kamen. Der Chor war ein typisch<br />

russischer, mit Kastratentenören, mit tiefen Bassstimmen, vor allem aber mit<br />

jenen Quartintervallen und simplen Oktavfinales, die einander in der Weite der<br />

russischen Steppe überlagerten und sich bis in die Unendlichkeit auszuweiten<br />

schienen. Also denn, der Feind dringt nicht mehr in Angriffsformationen vor,<br />

sondern marschiert in vollkommener Sicherheit in Kolonnen voran, schloss ich<br />

daraus.<br />

Einige Augenblicke später hob der Wind, wie in einer Opernszene, leicht<br />

den Nebelvorhang an und ließ uns eine Infanterietruppe voll in der Sonne sehen,<br />

die in Marschkolonne von links her mehr oder weniger diagonal auf uns zukam,<br />

mit «Gesang voran!».<br />

Das war zuviel des Guten: Eine feindliche Einheit defilierte vor unseren<br />

Feuer<strong>ro</strong>hren vorbei gleich Mäuschen vor den Barthaaren der Katze, von einem<br />

solchen Almosen für einen Artilleristen hatte ich noch nie gehört. Da ich mich auf<br />

dem Kamm befand, hinter meinen Haubitzen, die im Tale standen und den Feind<br />

nicht sehen konnten, um ihn direkt unter Beschuss zu nehmen, korrigierte ich<br />

nach Augenmaß Distanz und Schussabweichung der Rohre und befahl mit<br />

erstickter Stimme: «Foc! Feuer!». Die vier Schüsse gingen zeitgleich mit den<br />

Salven unserer beiden MGs los, allein, da ich darauf wartete, die Explosionen<br />

der Geschosse beim Aufschlag zu sehen, ließ der Wind, einem Regisseur gleich,<br />

der dem Schauspiel keine makabre Wendung geben möchte, im letzten Moment<br />

den Nebelvorhang wieder über die unvorsichtige Kolonne fallen. Man hörte kurz<br />

darauf die vier Explosionen. Das Lied erstarb. Ich fuhr fort, verzweifelt zu feuern.<br />

Ich vergrößerte die Distanz und schoss erneut, ohne dass der Nebel sich hob,<br />

damit ich auch sehen konnte, was ich letztlich angestellt hatte. Ob ich die<br />

Kolonne get<strong>ro</strong>ffen habe oder nicht, erfuhr ich nie. Sicher ist nur, dass ich sie<br />

versprengt habe. Und auf der Stelle hatten wir auch das Weite zu suchen,<br />

solange der Feind sich nicht neu gruppierte, um zurückzuschlagen.<br />

Kaum aber hatte ich den Befehl gegeben, anzuspannen, als aus dem<br />

Nebel ein verzweifeltes «Schießt nicht! Wir sind’s!» erklang und die Silhouetten<br />

der Furtun\-Gruppe Gestalt annahmen.<br />

Die Rückkehr des verlorenen Sohnes wurde mit Hurrarufen begrüßt. Ich<br />

umarmte meinen alten Partner aus der «Todesquadrille» von der «Spitze», der,<br />

erschöpft, wie er war, mir nur soviel sagen konnte: dass sie sich gestern und

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