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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 62<br />

10. ANABASIS<br />

Wir schritten schweigend und sorgenvoll voran; jeder in sich selbst vertieft<br />

und alle zusammen niedergedrückt von dem trüben, fast schmutzigen Licht des<br />

ersten Morgens in der Gefangenschaft. Zu einem gewissen Zeitpunkt erinnerte<br />

ich mich unseres Verwundeten und fragte Ivan, der neben mir ging, nach ihm.<br />

Als ich diesen aber anblickte, erfasste mich Bestürzung. Fast hätte ich ihn nicht<br />

mehr erkannt. Etwas in seinem Gesicht hatte sich verändert. Eine Art<br />

Schmerzentstellung war auf seinem Antlitz erstarrt.<br />

„Er ist etwas mehr hinten, mit unseren Jungs, Herr Leutnant!“<br />

„Gut, ich geh mal nach ihm sehen.“ Auf dem Weg zu unserem<br />

Verwundeten erforschte ich aufmerksam die mir entgegenkommenden Gesichter<br />

und entdeckte dann verwundert und ersch<strong>ro</strong>cken zugleich in jedem Antlitz die<br />

gleiche Entstellung, die alle bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Es war eine<br />

negative Verwandlung, die auf die Antlitze nicht das taboritische Licht der wahren<br />

Verklärung Christi brachte, sondern die Schatten des Abgrunds, in den wir<br />

gestürzt waren.<br />

Das undefinierbare, jedoch unverwechselbare Stigma der<br />

Gefangenschaft. Ob wohl auch in meinem Antlitz sich der gleiche Abdruck<br />

eingenistet haben sollte? Als ich den Verwundeten erreichte, erwartete mich eine<br />

weitere Überraschung: Ich traf ihn auferstanden und auf eigenen Beinen<br />

marschierend wieder. Er lehnte jede Abstützung ab, um seine Wohltäter nicht<br />

mehr zu belasten. Weiterhin mit offenem Mund und mit lächelnden Augen war er<br />

wohl der einzige, dessen Gesicht unverändert war. Er war am Tode<br />

vorbeigeschrammt und hatte ihn besiegt. Er fürchtete ihn nicht mehr. Ging festen<br />

Schrittes. Sollten ein paar Stunden Schlaf und natürlich seine Jugend ihn wieder<br />

aufgerichtet haben? Ich bezweifle dies. Vielleicht waren in jenem Spiel mit dem<br />

Tode gewisse innere Geheimressorts berührt und aus deren unbekannten Tiefen<br />

Kräfte freigelegt worden, die ihn zurück an die Oberfläche des Lebens gebracht<br />

hatten, die aber unter „normalen“ Bedingungen in latentem und unerahntem<br />

Zustand geblieben wären. Falls es solche Ressorts wirklich gab, dann musste ich<br />

diese auch für mich entdecken.<br />

Und so marschierten wir rastlos dahin, die Kolonne verwandelte sich nach<br />

vorne hin erneut in einen anschwellenden St<strong>ro</strong>m von Menschen, dadurch dass<br />

die kräftigeren Gefangenen, ihre Ellenbogen benutzend, vorwärts drängten, um<br />

dann von anderen noch kräftigeren verdrängt zu werden, alles, um so gut wie nur<br />

irgend möglich placiert zu sein, wenn denn das B<strong>ro</strong>t kommen sollte. Im Grunde<br />

genommen verkörperte sich in diesem bedauernswerten Schauspiel der<br />

Mechanismus des Existenzkampfes an und für sich, allerdings in seiner<br />

elementarsten Form, der nacktesten, jener des homo homini lupus. Unter<br />

„normalen“ und zivilisierten Lebensbedingungen verbirgt sich dieser<br />

Mechanismus hinter einer Staffage guter Manieren. Das Vorankommen mittels<br />

Ellenbogengebrauch findet zwar auch unter diesen Umständen statt, aber mit<br />

einem Lächeln auf den Lippen und vollkommener Höflichkeit.

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