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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 481<br />

Bei unserer Ankunft in Odessa gehörte Sandu Gabriel zu der kleinen<br />

Gruppe rumänischer Offiziere und Soldaten, die bereits da waren. Er war<br />

kleingewachsen, dünn, blauäugig, bleich, eher wortkarg und fiel vom Äußeren<br />

her in keiner Weise auf. Er schien ein blasser, uninteressanter Mensch zu sein.<br />

Nichts an ihm verriet das Kalkül, die Energie, die Beharrlichkeit und den Mut, die<br />

er an den Tag gelegt hatte, um es zu schaffen. Als ich ihn kennen lernte, flocht er<br />

aus Schnur auf einem Leisten für Damenschuhwerk Schuhoberteile, die er durch<br />

die Soldaten, die in die Stadt zur Arbeit mussten für gutes Geld an die eleganten<br />

Odessaer Frauen verkaufte, die etwas für solch sommerliche Modelle übrig<br />

hatten.<br />

Er wurde ständig auf dem Kommissariat mit Verhören schikaniert, musste<br />

dort ganze Stapel von Erklärungen verfassen. Es ging das Gerücht um, dass er,<br />

bevor er seinen gegenwärtigen Namen nannte (Sandu G. schien die wahre zu<br />

sein), im Laufe der Untersuchungen der Reihe nach verschiedene andere<br />

Namen angegeben hatte. Mal war er {tefan Vasilescu aus Susenii din Vale,<br />

Kreis X, geboren am…, mit den Eltern Soundso und Soundso, mal war er Vasile<br />

{tef\nescu aus V\leni de Sus, Kreis Y, geboren am… mit den Eltern Soundso<br />

und Soundso. Jede dieser falschen Identitäten wurde – selbstverständlich – von<br />

einer falschen Biographie begleitet, zu Papier gebracht auf vielen Seiten, wahre<br />

biographische Romane mit einem Haufen Einzelheiten, als stammten sie aus der<br />

Feder Balzacs. Der Untersucher hatte keine Eile. Nahm das literarische Werk<br />

des Untersuchten und schickte es nach Rumänien zur Überprüfung. Nach etwa<br />

fünf-sechs Monaten Nachforschungen, währenddessen S.G. erleichtert<br />

aufatmete – auch unsere Bü<strong>ro</strong>kratie arbeitete ihm auf diese Weise zu, kam dann<br />

das Ergebnis: Der Betreffende existierte nicht in den Personenregistern der<br />

angegebenen Ortschaften. „Du hast uns angelogen“, fuhr ihn der Untersucher<br />

an. „Ja, das habe ich“, gab selbstkritisch S. zu, „aber jetzt sage ich Ihnen die<br />

Wahrheit. Ich schwöre es!“ Und nach einer Woche des Schreibens reichte er<br />

diesem einen neuen Blätterstapel voller Lügen. Und bis das Ergebnis der neuen<br />

Überprüfungen kam, flocht er fleißig neue Damenschuhe aus Schnur und<br />

sammelte gutes Geld für schlechte Tage.<br />

Bis dann an einem wunderbaren Aprilabend, als der Duft der<br />

Mirabellenblüten aus den Gärten der Nachbargebäude zu uns herüberströmte,<br />

Sandu kurz nach dem Zapfenstreich zum Lagertor bestellt wurde. In der<br />

Eingangskabine wurde er einer Frau gegenübergestellt. Als er diese sah, wurde<br />

Sandu bleich und fiel in Ohnmacht. Man hob ihn hoch, bespritzte ihn mit etwas<br />

Wasser und klopfte ihm auf die Wangen, auf dass er wieder zu sich komme. Und<br />

er kam wieder zu sich. Mit erloschener Stimme, als spräche er aus einem Grab,<br />

gelang es ihm gerade soviel zu sagen: „Bringt mich in mein Bett! Morgen sage<br />

ich die Wahrheit, die ganze Wahrheit!“<br />

Die Wärter stützten ihn ab und brachten ihn nach oben, in den Schlafsaal,<br />

wo sie ihn vorsichtig auf sein Bett setzten. Wir, ohne etwas zu ahnen, hatten uns<br />

gerade schlafen gelegt. Das Hauptlicht ging aus, und über den gesamten<br />

Schlafraum ließ sich die Stille der Nacht. Bloß von Zeit zu Zeit ging die Tür auf,<br />

und der Offizier vom Dienst trat in den Türrahmen, sah nach Sandu, der in einer<br />

Art lethargischem Schlaf dalag, dann verschwand er wieder. Dieses Öffnen und<br />

Schließen der Tür (S. hatte sein Bett genau davor) wiederholte sich in

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