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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 406<br />

108. Bilanz einer Niederlage<br />

Auf LKWs verfrachtet, diesmal nicht so eng wie auf der Herfahrt, da die<br />

alten, höheren Offiziere mit dem Sanitätswagen weggebracht werden mussten,<br />

wurden wir über die gleichen Waldwege der geheimnisvollen und aufwühlenden<br />

Taiga zurück ins Lager gebracht. Allein, in diesen sechs Tagen hatte sich etwas<br />

in ihrer Physiognomie verändert, sie schien nicht mehr so vor Vitalität zu<br />

st<strong>ro</strong>tzen, denn hie und da war bereits das gelbe Siegel des Herbstes zu<br />

erkennen, vor allem im Laub der Birken. Auch unseren Herzen war ein Siegel<br />

aufgedrückt worden – jenes der Niederlage.<br />

Als wir dann mit den anderen sprachen, erfuhren wir bestürzt, dass<br />

Burckhardt, so wie er in unserer Zelle gesagt hatte: „Ihr seid die einzigen, die<br />

noch streiken“, so hatte er der Reihe nach in jeder Zelle gesagt: „Alle haben den<br />

Streik aufgegeben. Worauf wartet ihr denn noch?“<br />

Da er eine fragile Psyche besaß (ein Beweis dafür auch sein Verhalten<br />

Clonaru gegenüber), mit brüsken Übergängen von exaltierten und euphorischen<br />

Zuständen zu tiefen Depressionen, geriet er dem Dachs, dem gedrungenen<br />

Lagerkommandanten, ins Netz, und nach wer weiß was für Druckausübungen<br />

und D<strong>ro</strong>hungen mag er kapituliert und sich bereit erklärt haben, sein Spiel zu<br />

spielen. Da wir voneinander isoliert waren, hatte der Trick voll gegriffen. Gute<br />

Arbeit! Der Dachs war ein g<strong>ro</strong>ßer P<strong>ro</strong>fi.<br />

Selbstverständlich entflammten die Diskussionen im Lager dann mit noch<br />

größerer Wut, und Burckhardts Duplizität war natürlich verdammenswert. Mir<br />

aber schien es nicht korrekt, die ganze Verantwortung für das Scheitern unseres<br />

Streiks nur bei diesem Neu<strong>ro</strong>tiker zu suchen, dessen Nerven zerfetzt und dessen<br />

Moral im Keller war. Deshalb war es nun wichtig, dass wir ein jeder seinen Teil<br />

Verantwortung übernahmen und nicht mehr die Verirrung dieses<br />

Neurasthenikers als Alibi für unsere eigene Schwäche und Schuld benutzten.<br />

Das ganze Manöver des Dachses wäre nämlich gescheitert, hätten wir die<br />

goldene Regel jedes kollektiven Hungerstreiks respektiert: „Er hört nur in<br />

Gegenwart und mit dem Einverständnis aller Teilnehmer auf.“ Diese Bedingung<br />

hatten wir im Teufelsloch gestellt, hier aber, in den Kellerverliesen des NKWD<br />

von Morschansk, hatte keiner mehr von uns sie eingefordert.<br />

Warum? Schwer zu sagen. Vielleicht, weil wir müde waren von diesem<br />

Streik, den wir unvorbereitet und irgendwie unüberzeugt begonnen hatten, nur<br />

um Ispas, der in den Hungerstreik getreten war, ohne sich mit uns zu beraten,<br />

nicht ohne Deckung zu lassen. Vielleicht hätten wir die harte P<strong>ro</strong>be der<br />

künstlichen Ernährung mit dem in den Hals gesteckten Schlauch auf uns<br />

genommen, eine ausgezeichnete Gelegenheit für die Folterer in weißen Kitteln,<br />

uns zu quälen oder uns tödlich zu „verunglücken“ durch Erstickung. Vielleicht<br />

spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass man 16 Gefangenen von uns getrennt<br />

hatte, so dass uns die dynamischsten und unbändigsten Kameraden fehlten, die<br />

unseren Kampfgeist auf hohem Niveau aufrechterhalten hätten. Vielleicht… oder<br />

gar mit Sicherheit, denn ohne sie fehlte uns der Geist der Initiative und der Elan:

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