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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 442<br />

124. Die Bibliothek von Michailowo<br />

Im Zentralgebäude, der ehemaligen Bojarenwohnung, befand sich im<br />

Obergeschoß die Lagerbibliothek, deren Hauptbestand an Büchern aus der<br />

Bibliothek des vormaligen Inhabers stammte, darunter die französischen Bücher<br />

einen Ehrenplatz einnahmen. Man fand natürlich auch genug Bücher in<br />

deutscher und in russischer Sprache, aber die französischen dominierten an Zahl<br />

und Qualität. Anscheinend gehörte ihr ehemaliger Besitzer zu jenen Aristokraten,<br />

die öfter Französisch als Russisch sprachen. Was für seltene Ausgaben von<br />

französischen Klassikern, aber auch aus der Literatur des 19. Jahrhunderts! Vor<br />

allem die Romanciers Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola, France, sie lagen in<br />

vollständigen Werkausgaben vor! Man glaubte kaum seinen Augen! Ich musste<br />

erst an die Quellen der Wolga gelangen, um auf solch einen Schatz zu stoßen.<br />

Wie diese aristokratische und kosmopolitische Bibliothek der Säuberung durch<br />

den NKWD entkommen war, blieb für mich bis heute ein Rätsel. Wahrscheinlich<br />

haben auch „sie“ ihre Funktionsschwächen, so dass auch so eine Chance mal<br />

durchrutschen kann.<br />

Für uns bot diese Bibliothek eine göttliche Speise. Zwischen ihren<br />

Büchern mit dem Staubgeruch des 19. Jahrhunderts hatte die Zeit, unsere ewige<br />

Gegnerin, keinen Zugang. Sie kann überallhin mit ihrer zerstörerischen Macht,<br />

außer in die Welt der „idealen Fiktionen“.<br />

Selbstverständlich besaß die Bibliothek auch einen Stand sowjetischer<br />

Bücher, ideologische sowie belletristische Werke, die keinen interessierten. Ich<br />

aber, aus dem Wunsch heraus, mir ein möglichst objektives, vorurteilfreies Bild<br />

von dieser Literatur zu machen, begann frei und von niemandem gezwungen sie<br />

zu lesen; in den Sprachen, die mir zugänglich waren, Französisch, Deutsch,<br />

Italienisch. Da ich mich nun in diese Lektüren vertiefte, fragte ich mich an dieser<br />

oder jener Stelle: Was bewog denn Scholochow, nach einem eposähnlichen<br />

epischen Werk wie Am stillen Don einen Werbetext ohne Salz und Pfeffer für die<br />

Kollektivwirtschaft wie Neuland unterm Pflug zu schreiben? Liest man diese<br />

beiden Werke zusammen, ist es einem unmöglich zu glauben, dass sie vom<br />

selben Autor stammen. Oder wie ist es möglich, dass Gorki, der Meine<br />

Universitäten, Nachtasyl oder Das Mädchen und der Tod schuf, einen Roman<br />

wie Mutter oder so fade und an den Haaren herbeigezogene Theaterstücke wie<br />

Wassa Schelesnova oder wie den grässlichen Belomorkanal (eine<br />

Vorwegnahme des genauso schrecklichen Donau-Schwarzmeer-Kanals), eine<br />

Rechtfertigung für die Zwangsarbeit der Häftlinge? Desgleichen schluckte ich<br />

resigniert Fadejews Junge Garde, Furmanows Tschapajew sowie das<br />

unbekömmliche Wie der Stahl gehärtet wurde von Ost<strong>ro</strong>wski. Wieso war ich<br />

denn so ein Masochist und tat mir solch peinliche Lektüren an? Weil ich im<br />

ästhetischen Misserfolg dieser Werke, die in der kommunistischen<br />

Gesellschaftsordnung und auf deren Denkschienen verfasst worden waren, das<br />

sichere Symptom dafür sah, dass diese Ordnung auf existentieller Ebene nicht<br />

lebensfähig war. Und dementsprechend früher oder später unweigerlich

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