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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 56<br />

Rande des Abgrundes zurückzogen, einiges an Energie auf, die ja selber auch<br />

alles andere als unverbraucht war.<br />

Komisch aber, diese unsere Hingabe an jene, die in Not waren, anstatt<br />

unsere Kräfte zu vermindern, vermehrte diese.<br />

Damals hatte ich die Offenbarung eines geheimnisvollen – völlig jenseits<br />

der Physik liegenden – Gesetzes, das in „Grenzsituationen“ in Kraft tritt: Je mehr<br />

Kräfte du für deine Nächsten aufbrauchst, umso mehr wachsen dir nach. Und<br />

das rezip<strong>ro</strong>ke Gesetz dazu: Je mehr du versuchst, sie nur für dich aufzusparen,<br />

desto mehr du davon verschwendest.<br />

Der Mond war untergegangen, und unsere Kolonne, die nicht mehr vier-,<br />

nicht mehr fünfreihig, sondern ein lang gezogener Haufen war, marschierte in<br />

einer Halbfinsternis dahin, als uns plötzlich eine LKW-Kolonne, auf dem Weg an<br />

die F<strong>ro</strong>nt, uns entgegenkam und uns unvermittelt mit ihren Scheinwerfern<br />

blendete.<br />

„Ist’s denn noch weit bis zum Bahnhof?“, riefen einige auf Russisch aus.<br />

„Und wie viele Kilometer sind’s denn?“<br />

„Zdes i sitscheas“ (also „hier und gleich“), antwortete man uns<br />

unveränderlich aus den Lastwagen. Tatsächlich, auf dem gerade sich<br />

niederlassenden leichten Nebel, der uns fürsorglich einhüllte, ließen die kräftigen<br />

Scheinwerfer, deren Strahlen einander wie auf einem Bildschirm schnitten, links<br />

von uns die geometrischen Fassaden einer Wohnblockstadt sichtbar werden.<br />

„Die Stadt! Die Stadt!“, rief die Menge aus Tausenden von Brüsten. „Wir<br />

sind da, wir sind da,… sie werden uns Wasser und B<strong>ro</strong>t und Fisch geben“,<br />

sagten Tausende von Menschen wie im Delirium, sich, am Ende ihrer Kräfte,<br />

endlich am Ufer wähnend. Sogar jene, welche ich verloren im Abgrund ihrer<br />

Apathie glaubte, rappelten sich wieder auf und riefen auch: „Die Stadt!... Die<br />

Stadt! Wir sind gerettet“. In dieser unaufhörlichen Bewegung des<br />

Schweinwerferlichts, verschwanden manche Fassaden im Dunkel, und wenn die<br />

Strahlen einander wieder auf dem Nebelbildschirm kreuzten, tauchten andere<br />

und wieder andere auf, bis die Autokolonne mit ihren betrügerischen Lichtern an<br />

uns vorbei ware und wir uns wieder allein in der dunklen Steppe wiederfanden.<br />

„Die Stadt“ war nichts weiter als eine Halluzination gewesen. Eine<br />

optische Illusion. Die Überschneidung der verschiedenen Scheinwerferstrahlen<br />

auf dem Hintergrund des Nebels hatte zu einem Spiel von Lichtern<br />

verschiedener Intensität auf mehreren Ebenen geführt, die Volumen<br />

suggerierten. Dies war der Ausgangspunkt einer Massenhalluzination, die<br />

aufgrund einer nicht nur physischen, sondern auch neu<strong>ro</strong>psychischen<br />

Erschöpfung, welche die Wahrnehmung den Wünschen entsprechend verformt,<br />

ablief. Es hatte ausgereicht, dass ein Einziger ausrief: „Die Stadt“, damit in jenem<br />

Lichtspiel eine wahre Stadt Gestalt annahm; denn alle wünschten sich diese<br />

voller Verzweiflung. Ich habe sie selbst gesehen und sehe sie auch heute noch,<br />

nach so vielen Jahren, ich habe selber auch, gleich allen anderen, ausgerufen:<br />

„Die Stadt, die Stadt“ und Ivan, Cre]u und andere umarmt. Dann, nachdem die<br />

Fata Morgana verschwunden war, schlossen viele von denen, die sich aus ihrer<br />

Apathie gerissen hatten, um die Luftspiegelung einer Lichtstadt zu bejubeln,<br />

wieder, brachen endgültig zusammen. Eine F<strong>ro</strong>stwelle ließ sich über uns nieder<br />

und verwandelte den Nebel in Raureif und ließ die Sterne irrsinnig leuchten.

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